Full text: Archiv für öffentliches Recht.Elfter Band. (11)

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der Wirklichkeit, die unser genossenschaftliches Dasein einem Kriegsschau- 
platz ähnlicher machen als einer friedensrechtlichen „Gebietsgenossenschaft“ 
suchen wir vergebens ein Abbild in unserer modernen fachlichen Litteratur: 
quod non est in actis — non est in mundo! Wenn der künftige Forscher, 
von den Stürmen, die unsere Tage durchziehen, genau informirt, zu den 
Blättern unserer zeitgenössischen Staats- und Verwaltungsrechtslitteratur 
greifen wird, so wird er an die berühmte Schilderung der Mme. DE STAEL 
gemahnt werden, die diese von ihrer Flucht aus dem vom Revolutionstaumel 
erfassten Paris in's flache, von der Bewegung unberührt gebliebene, abseits 
liegende Land, in’s apatbische Provinzleben giebt. Sie schreibt: „Je ren- 
contrai encore dans les environs de Paris quelques difficultes dont je me 
tirai, mais en s’eloignant de la capitale, le flot de la tempäte semblait 
s’apaiser et dans les montagnes du Jura rien ne rappelait l’agitation Epou- 
vantable dont Paris &tait le theätre.“ (Chap. X. Memoires et considerations 
sur les principaux €venements de la Revolution francaise.) Diese Entfremdung 
unserer Staatsrechtswerke vom wirklichen Staatsleben, hat auch die Staats- 
rechtslehrer in Deutschland, zumal in Preussen, dem wirklichen staat- 
lichen Leben und den Vertretungskörpern in Bundesstaat und Reich völlig 
entfremdet.. Das deutsche Volk will nichts von seinen Rechts- 
lehrern wissen, weil diese den Blick für sein Wohl und Weh, für seine 
Forderungen und Bedürfnisse über die Wahrung der „Wortgewissheit* ver- 
gessen zu haben scheinen. 
Es sind jetzt mehr als zehn Jahre, dass wir diese Flucht der Lehre 
vor dem wirklichen Leben, diese Inhalts-Entfremduug der „nichtpolitischen* 
Darstellung als Konstruktionsfehler, als methodischen Irrthum bezeichnet und 
auf die unabweislichen Folgen hingewiesen haben. Unser Appell blieb 
ungehört, wir sind auf der ganzen Linie sachfällig geworden; 
nur falsche Autoreneitelkeit könnte sich darüber hinweg täu- 
schen. Aber fast will es uns scheinen, als zeigten sich zunehmend Anzeichen 
für eine sachliche Würdigung unserer Anschauung, welche der zur Zeit fast 
widerspruchslos herrschenden doch nur ein beschränktes Maass innerer Be- 
rechtigung zuzubilligen geneigt ist. Uneingestanden, vielleicht mehr gefühls- 
mässig führte der Zweifel an der ausschliesslichen Leistungsfähigkeit des 
herrschenden Systems zum Verlassen der systematischen Arbeit und drängte 
zu jenen stofflich viel erschöpfenderen Darstellungen des wirklichen Gemein- 
dasein in seinen ausgestalteten Instituten, deren wir uns heute in der Form 
der lexikalischen Bearbeitungen aus den letzten Jahren erfreuen: v. STENGEL’s 
Wörterbuch des deutschen Verwaltungsrechts, das Handwörterbuch der 
Staatswissenschaften von ÜoNRAD, ELSTER, Lexıs und LoEnıne, das öster- 
reichische Staatswörterbuch von MiscHLER und ULsricH und selbst die 
wissenschaftlich viel tiefer stehenden neuesten ABCdarien aller politischen 
Parteien, sie sind in unserem Sinne Anerkennungsurkunden für die histo- 
rische Erfahrung, dass die Wortgewissheit nicht das Um und Auf der wissen-
	        
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