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und Rügen (vgl. S. 101) Bestimmungen der Landgemeindeordnung per de-
suetudinem aufgehoben werden könnten und bezieht sich dabei auf L. 32 D.
de legibus I3. Es ist das die bekannte Stelle, die mit dem Satze schliesst
„+ » . quare rectissime etiam illud receptum est, ut leges non solum suffragio
legislatoris, sed etiam tacito consensu omnium per desuetudinem abrogentur“.
Dem ist entgegenzuhalten, dass dieser Satz schon im gemeinen Rechte viel
umstritten ist und dass es Lehrer des gemeinen Rechts giebt, die die weit-
gehenden Konsequenzen, die PucHTA aus ihm zieht, ablehnen. Auf dem Ge-
biet des öffentlichen Rechts aber ist so ziemlich allgemein anerkannt, dass
Gesetze per desuetudinem nicht aufgehoben werden können und jedenfalls
steht die Praxis auf diesem Standpunkte. Fragt man aber, ob und inwie-
weit die Landgemeindeordnung selbst, ihre Stellung zum Gewohnheitsrecht
auffasst, so scheint uns diese genugsam durch $ 147 in dem Sinne gekenn-
zeichnet, dass gegenüber den Satzungen des Gesetzes, soweit sie dem jus
cogens angehören, für die Entwickelung eines Gewohnheitsrechts mit
derogirender Wirkung kein Raum mehr ist.
Berlin. Freytag.
Dr. jur. et Lie. theol. Karl Rieker, Privatdozent (jetzt a. o. Professor) an
der Universität Leipzig. Die rechtliche Stellung der evange-
lischen Kirche Deutschlands in ihrer geschichtlichen Ent-
wickelung bis zur Gegenwart. Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1893.
XV und 488 S. gr. 8. 10 Mk.
So sehr auch die Ansichten der Schriftsteller, die sich bisher mit der
rechtlichen Stellung der evangelischen Kirche Deutschlands in alter und
neuer Zeit befasst haben, im Uebrigen auseinandergingen, darin stimmten
sie doch alle überein, dass die Entwickelung einen andern als den von den
Reformatoren ursprünglich beabsichtigten Verlauf genommen habe. Das
reformatorische Ideal sei nämlich eine selbständige, vom Staate mehr oder
weniger unabhängige Kirche gewesen. Dass es nicht verwirklicht, dass viel-
mehr die Kirche dem Staat und den Landesherren ausgeliefert worden sei,
das habe die Ungunst der äusseren Umstände und Luthers Mangel an Inter-
esse und Verständnis für Fragen der Kirchenverfassung verschuldet.
Dies die herrschende Ansicht, Ihre Unrichtigkeit und Unhaltbarkeit
weist RIEKER überzeugend nach. Die Reformatoren kannten gar keinen
Staat, dem sie ihre, übrigens zunächst als unsichtbar gedachte Kirche gegen-
überstellen konnten; sie wussten nur von einer einheitlichen Christenheit
mit zwei Gewalten, dem geistlichen Regiment und dem weltlichen. Und sie
konnten die Kirche den Landesherren gar nicht mehr ausliefern; denn das
landesherrliche Kirchenregiment und das Landeskirchentum war in den
meisten deutschen Territorien schon im 15. Jahrhundert da. Die Reforma-
tion hat durch die Lehren von der weltlichen Obrigkeit als dem praecipuum
membrum ecclesiae und von der custodia utriusque tabulae nur bereits Vor-