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das landesherrliche Kirchenregiment auch heute noch fortbestehen. Aber
die evangelische Kirche ist vom Staate unabhängiger geworden und hat
mancherorts durch die Aufnahme presbyterialer und synodaler Elemente ihren
Verfassungsorganismus bereichert und vervollkommnet.
Es versteht sich von selbst, dass ein so kurzes Resume von dem Ge-
dankengang und dem Inhalt eines Buches, das den Umfang des RıEkerschen
besitzt, keine oder nur eine höchst unvollkommene Vorstellung geben kann.
Besonderer Hervorhebung und Anerkennung bedarf aber auch die glückliche
Verbindung von Einzeluntersuchung und zusammenfassender Darstellung,
durch die das Werk sich auszeichnet. Dazu kommt, dass aus ihm ein feiner
historischer Sinn spricht, der das allmählige Werden vortrefflich zur An-
schauung zu bringen versteht, und dass der Verfasser auch die theologische
Seite des Themas als Fachmann beherrscht. Kurz man hat selbst bei den
schwierigsten und bestrittensten Fragen den Eindruck, dass die Führung eine
durchaus sichere und zuverlässige sei, und man folgt stets mit Interesse, bis-
weilen sogar mit Spannung den Auseinandersetzungen des Verfassers. Als
besonders beachtenswert möchte ich bezeichnen S.33f. über das vorrefor-
matorische Landeskirchentum, S. 54 ff. über Luthers und Melanchthons Vor-
stellung vom Verhältnis der weltlichen und geistlichen Gewalt, S. 98#t.:
Wem gebührte nach den Grundsätzen der Reformation das Kirchenregiment ?
(treffende Widerlegung Sounms), S. 168ff. über die Stellung der Konsistorien
und ihr Verhältnis zu den Visitationskommissionen, 8. 187ff. über die Be-
handlung des Kirchengutes, S. 270ff. über das Verhältnis von Territorial-
und Kollegialsystem, S. 311 über das WÖLLNeErsche Religionsedikt, S. 344ff.
über Art. XVI Abs. 1 der deutschen Bundesakte, S. 366ff. über die rheinisch-
westfälische Kirchenordnung von 1835, S.371ff. über die Bedeutung der
48ger Bewegung für die Kirche. Auch an feinen Einzelbeobachtungen ist
das Buch reich. So heisst es z. B. S. 308: „Die Unionsversuche des Hohen-
zollernhauses waren nur eine mildere Anwendung des fürstlichen ius refor-
mandi: die lutherischen Unterthanen sollten allmählig zu dem reineren und
höheren Standpunkte des reformierten Glaubens emporgehoben werden.“
Ueberrascht und befremdet haben mich dagegen die Konsequenzen, die der
Verfasser im Schlusskapitel aus der geschichtlichen Entwickelung zieht.
Gerade aus Rıekers Darstellung erhellt, dass das Streben nach Verselbständi-
gung, das sich in neuerer Zeit innerhalb der evangelischen Kirche geltend
macht, mit geschichtlicher Notwendigkeit eintreten musste. Ein langsamer
Differenzierungsprozess hat die einheitliche Christenheit der Reformatoren
gesprengt und zu einem Nebeneinander von Staat und Kirche geführt. Lange
Zeit war das Uebergewicht auf Seite des Staates und musste es sein. Aber
ebenso sicher musste früher oder später ein Ausgleich stattfinden. Mit der
Unterscheidung zwischen dem Landesherrn als Staatsoberhaupt und als Träger
des evangelischen Kirchenregiments bahnte er sich an. Der Ausbau der Ver-
fassung durch Aufnahme von pregbyterial-synodalen Organen und die Ver-