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erfahren. Wenn dort durchschnittlich von 100 Anzeigen bei der
Staatsanwaltschaft nur 30 bis 40 zur förmlichen Klage gebracht
wurden, so mag die Mehrzahl sich aus thatsächlichen wie recht-
lichen Gründen nicht zur Klageerhebung geeignet haben; aber
wie viele von den beiseite gelegten als nicht im „öffentlichen
Interesse* gelegen erachtet, oder infolge höherer Weisung nicht
verfolgt worden sind, das entzog sich aller Kontrolle. Anderer-
seits beklagte bei Beratung des Grerichtsverfassungsgesetzes im
Reichstage 1876 der ehemalige hannover’sche Oberkronanwalt,
Excellenz Dr. WINDTHORST, wie in Preussen Staatsanwälte durch
Instruktionen zur Verfolgung kaum definierbarer Verbrechen ver-
anlasst worden seien und dass die Stellung der Staatsanwälte in
dem gegenwärtigen Prozess mit der Freiheit absolut un-
vereinbar sei.
vV. GNEIST a. a. O. hat weiter überzeugend dargethan, wie
gegen die Unterlassung öffentlicher Klageerhebung seitens der
Staatsanwaltschaft nur durch Erfahrung der subsidiären Privat-
anklage nicht bloss des durch ein Verbrechen Verletzten, sondern
jedes ehrbaren Mitgliedes der Gesellschaft, am besten aus Kreisen
der Selbstverwaltung hervorgehend, abgeholfen werden könne.
Ueberraschen musste es, wie GNEIST, der von jener staats-
rechtlich so begründeten Anschauung und von der Grundeinrich-
tung des Oberaufsichtrechts der landesherrlichen Justizkollegien
als einer der für den konstitutionell gewordenen Staat wertvollsten
Erbschaften, welche sich nicht einem ministeriellen Kommissarius
abtreten lasse, ausgehend — schliesslich das Legalitätsprinzip als
massgebend für die Strafverfolgung aufgegeben hatte und die
Staatsanwaltschaft der analog richterlichen Selbständigkeit und
des von oben unabhängigen freien Ermessens bei der Strafver-
folgung nur aus einem praktischen Grunde entkleidet wissen wollte,
weil er sie als ein dem Justiz- und Verwaltungs- bezw. dem Mi-
nister des Innern untergeordnete Polizeibehörde in Beweglich-
keit nach den Bedürfnissen der zeitigen Gesellschaft erhalten haben