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tismus abfertigt, die Versicherung, nur das Interesse des Staates und der
Arbeiter wahrzunehmen, für Lüge, die Entrüstung über, Misstrauen für
Heuchelei erklärt, und ganz offen ausspricht, dass es sich nur um eigen-
nützige, dem Staatswohl feindliche Interessen handele. Tout comme chez
nous! — nur dass man bei uns sich nicht so grob ausdrückt.
Aus dem umfassenden Materiale, welches der Verfasser mit anerkennens-
werther Uebersichtlichkeit verarbeitet hat, kann natürlich nur der allgemeine
Gedankengang hervorgehoben werden. Nach einer kurzen Begriffsentwick-
lung giebt R. zunächst einen geschichtlichen Ueberblick über die Entwick-
lung der Produktion in Russland, insbesondere des Handwerks und der
Industrie, in der interessant ist, dass Peter der Grosse in seinem Bestreben,
die Errichtung von Fabriken zu fördern, selbst davor nicht zurückschreckte,
die Sklaverei einzuführen, indem er den Fabrikanten das Recht gab, Leib-
eigene ohne Grundbesitz zu kaufen. Im II. Abschnitte wird die Lage der
russischen Arbeiterwelt vor und nach Aufhebung der Leibeigenschaft (1861)
dargestellt. Der russische Fabrikarbeiter hat sich eine etwas günstigere
Stellung, wie seine westlichen Genossen, dadurch gewahrt, dass er geringen
Grundbesitz in Form der Betheiligung am Mir besitzt und so nicht aus-
schliesslich auf die Fabrikarbeit angewiesen ist. Auch herrscht in der russi-
schen Industrie bis jetzt nicht, wie bei uns, ein Ueberfluss, sondern ein
Mangel an Arbeitskräften. Im III. Abschnitte folgt die geschichtliche Ent-
wicklung der russischen Arbeiterschutzgesetzgebung und im IV. Abschnitt
die Darstellung des gegenwärtigen Zustandes, der, wie bereits erwähnt, auf
dem umfassenden Gesetze vom 1. Juni 1882 beruht. Dasselbe berührt aber
nicht das Handwerk und die Hausindustrie, betrifft, auch zunächst nur die
jugendlichen Arbeiter und ist hinsichtlich der Frauen durch die Gesetze vom
3. Juni 1885 und 26. Jan. 1890 und hinsichtlich des allgemeinen Betriebs-
schutzes durch die Gesetze vom 3. Juni 1886 und 5. Okt. 1892 ergänzt. Die
Fabrikinspektion ist durch Gesetz vom 1./12. Juni 1884 eingerichtet. Zu
Inspektoren sind zum Theil sozialwissenschaftlich bedeutende Männer bestellt,
die eine segensreiche Thätigkeit entfalten, aber über zu grosse Bezirke
klagen. Der V. Abschnitt behandelt die gesetzlichen Bestimmungen über den
Arbeitsvertrag und Arbeitslohn, das Trucksystem, den Streik und die Haft-
pflicht nebst Versicherung. Das Arbeitsverhältniss beruht auf dem Gesetze
vom 3. Juni 1886, welcher auch das Truckwesen regelt. Streik und Aus-
sperrung ist durch das Strafgesetzbuch mit schweren Strafen bedroht. Eine
besondere Gesetzgebung über Haftpflicht und Arbeiterversicherung besteht
bis jetzt nicht, soll aber in Vorbereitung begriffen sein unter Anlehnung an
das deutsche Vorbild. Im VI. Abschnitte giebt R. noch einige Vorschläge
für die Zukunft. Das Buch ist als dankenswerthe Ausfüllung einer Lücke in
unserer sozialwissenschaftlichen Litteratur zu betrachten.
Braunschweig. W. Kulemann,