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Zweifel. Die Eigentümlichkeit besteht bei ZorN darin, dass er
die Ratifikation eines Staatsvertrages der Sanktion eines Gesetzes
gleichstellt, in ihr also einen staatsrechtlich wirksamen Willens-
akt eines Staatsorganes erblickt. Hieraus ergiebt sich dann, —
unter Annahme der Sanktionstheorie —, dass die Sanktion des
Vertragsgesetzes durch den Kaiser, nicht durch den Bundesrat
erfolgt, dass letzterer „nur konform dem Reichstage mitwirkt“.
Mit anderen Worten: Art. 5 Abs. 1 der Reichsverfassung findet
auf Vertragsgesetze keine Anwendung; zu diesen ist die Ueber-
einstimmung der Mehrheitsbeschlüsse von Bundesrat und Reichs-
tag zwar erforderlich, aber nicht ausreichend; es muss noch die
Uebereinstimmung des Kaisers erklärt sein.
ZOORN hat diese Theorie später aufgegeben, nachdem JELLINEK
ausgeführt hatte, die Ratifikation sei nur eine dem Mitkontrahenten
gegenüber abgegebene Willenserklärung, aber kein nach innen das
Recht konstituierender Imperativ, kein Gesetzesbefehl, denn es
gebe Verträge, deren Inhalt sich nur an die Staatsgewalt wende,
die nur die Staatsgewalt binden kännen, rn dass ein Imperativ
an die Staatsangehörigen gar nicht einmal möglich seit. ZORN
erkannte diesen Einwand als gewichtig an und erklärte deshalb,
die von ihm früher angenommene juristische Identität von
Sanktion und Ratifikation sei nicht haltbar®.. Die Entstehung
des Vertragsgesetzes schildert er jetzt folgendermassen: Die
„Rechtssetzung erfolgt durch den positiven Akt der Sanktion,
welcher zugleich das negative Recht des Veto einschliesst. Im
deutschen Bundesstaate erfolgt die Sanktion durch den Bundesrat.
Handelt es sich nun bei dem zu setzenden Rechte um einen
Inhalt, welcher zuvor mit einem dritten Staate auf dem Wege
des Staatsvertrages vereinbart worden ist, so muss angenommen
werden, dass in gleicher Weise die Sanktion durch den Bundesrat
* JELLINER, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, Wien 1880, S. 55.
° Zorn, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I 2. Aufl., Berlin
1895, $ 18 S. 506- A. 28.