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Oberbefehlshaber des Heeres und der Flotte ableiten lassen; das
Recht der Retorsion und der Repressalien lege ihm die Verfassung
nirgends bei; Massregeln wie Ausweisung von Fremden, Beschlag-
nahmen u. dgl. stehen nicht ihm zu, sondern den Landesregierungen®®,
Das Recht der Retorsion mag dahingestellt bleiben, denn von
dem ordnungsmässigen Wege abgesehen, können Staatsverträge
nur zu Repressalienzwecken aufgehoben werden. Was diese letz-
teren anlangt, so vertritt HAENEL eine der SEYDELschen diametral
entgegengesetzte Ansicht: nur das Reich, aber kein Einzelstaat
soll zur Ergreifung von Repressalien gegen fremde Staaten be-
fugt sein®!. Eines Eingehens auf das Prinzip wird es an dieser
Stelle nicht bedürfen, denn es handelt sich um eine Angelegen-
heit, welche zweifellos zur ausschliesslichen Kompetenz des Reiches
gehört: die Ausserkraftsetzung eines vom Deutschen Reiche ge-
schlossenen Staatsvertrages. Diese Massregel kann nur vom
Deutschen Reiche, nicht von Grliedstaaten ergriffen werden. Es
kommt also lediglich in Frage, welches Reichsorgan, bzw. welche
Reichsorgane sie vorzunehmen haben. Und da sind wir der Mei-
nung, sie gehöre zur völkerrechtlichen Vertretung des Reiches
und stehe dem in dieser Hinsicht nicht beschränkten Kaiser zu.
Gewiss kann der Kaiser durch einen staatsrechtlichen Befehl
— eine Verordnung — das Vertragsgesetz nicht aufheben; wohl aber
kann er den Vertrag aus völkerrechtlichen Gründen völkerrechtlich
ausser Kraft setzen; und damit wird unserer Ansicht nach das Ver-
tragsgesetz ohne weiteres hinfällig. Deshalb ist es, wie schon her-
vorgehoben, auch ohne Bedeutung, ob die völkerrechtliche Handlung
vom deutschen Kaiser oder vom Mitkontrahenten ausgeht. Durch
seine Willensäusserung kann dieser das deutsche Vertragsgesetz
nicht hinfällig machen. Ob dasselbe zugleich mit demVertrage ausser
Kraft tritt oder nicht, ist eine Frage des deutschen Staatsrechts.
°° SeypEL, Kommentar zur Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich,
Würzburg 1873, S. 119.
81 HaEnEL, Deutsches Staatsrecht, Bd. I, Leipzig 1892, 8. 552ff.