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teren insbesondere bestimmt, wird vor der jedesmaligen konkreten Unter-
suchung eine allgemeine Darlegung der Verhältnisse versucht, so der Zer-
gliederung der sozialen Organisationsformen (geschlechterrechtliche, territorial-
genossenschaftliche, herrschaftliche und gesellschaftliche) eine Betrachtung
über die soziale Natur des Menschen und die allgemeinen Grundzüge jeg-
licher sozialen Differenzirung vorangeschickt. So ergänzen sich jeder Zeit
die universellen Formen der Entwicklung und das spezifische, konkrete Ma-
terial, aus dem sich jene Abstraktionen, oder etwas volltönender ausge-
drückt, die Normen und Gesetze des sozialen Lebens ergeben. Der zweite
(ungleich stärkere) Band umfasst die spezielle Rechtsgeschichte des Personen-,
Familien-, Erb-, Buss- und Straf-, des Rache-, des Prozess- und Vermögens-
rechts, und das Alles nur insoweit, als hierbei allgemeine Ideen zum Aus-
druck gelangen, die nicht als Sondergut irgend eines Volkes oder einer Rasse
bezeichnet werden können. Deshalb ist auch die Rechtsentwicklung des
europäischen Kulturkreises fortgelassen, oder wenigstens nur gelegentlich zur
Veranschaulichung herangezogen. Post hat unter einem ganz ansprechenden
Vergleich das Verhältniss dieser beiden Bände zu einander dargestellt und
zwar folgendermaassen: Im ersten Bande dieses Werkes galt es, die grossen
Grundströme des Rechtslebens zu erfassen, wie sie durch die sozialen Orga-
nisationsformen des Völkerlebens ihr Bett und ihre Richtung erhielten.
Dieser zweite Band war den Nebenströmen gewidmet, welche in unendlicher
Mannigfaltigkeit neben jenen Grundströmen herlaufen. Auch unter diesen
giebt es noch mächtige Hauptflüsse, daneben aber unzählige kleinere bis zu
spärlichen Rinnsalen herab. Es tritt daher in diesem Bande die Vielgestal-
tigkeit der Schöpfungen des Rechtslebens unendlich stärker hervor, wie in
jenem. Es ist die Aufgabe der ethnologischen Jurisprudenz, neben der Fest-
stellung der grossen Grundgesetze des Rechtslebens auch jener überwältigen-
den Menge organischer Ansätze nachzuspüren, wie sie als Verfallprodukte
früherer Organisationsformen, dem Triebe der Selbsterhaltung folgend, oft
in sonderbar verzerrten Formen, heimlich und oft lichtscheu weiterschleichen,
wie sie an irgend welchen unfruchtbaren Stellen des Volkslebens in neuen
Gestalten aufschiessen, wie sie sich mit anderen Ansätzen verbinden und ver-
schmelzen, bis schliesslich jenes mit Trümmern von Jahrhunderten und Jahr-
tausenden besäete und gleichzeitig von den frischesten Gewässern durch-
rieselte, mit grünenden Wiesen und Feldern bestandene Gebiet des Volks-
lebens entsteht, welches wir das praktische Recht eines Volkes nennen (II,
718). Wenn Post bescheiden hinzusetzt, dass seine Arbeit voll von klaffenden
Lücken sei, welche erst die Wissenschaft der Zukunft würde ausfüllen können,
so darf man dem gegenüber wohl behaupten, dass sein Buch zur Zeit un-
übertroffen dasteht und wahrscheinlich noch für eine lange Reihe von Jahren
die Vorherrschaft unbestritten führen wird; denn es vereinigten sich in dem
seiner Wissenschaft viel zu früh entrissenen Forscher zwei sehr wichtige und
leider häufig getrennte Eigenschaften, eine scharfe, induktive Analyse, die