Full text: Archiv für öffentliches Recht.Zwölfter Band. (12)

5 — 
eines Menschen, die Fassung des Rechts in Sprachsätzen und 
die Erlangung der Positivität. 
Wenn wir uns mit dem Recht befassen, so versetzen wir 
uns, weil wir den subjectiven Ursprung des Rechtes vor Augen 
haben, unwillkürlich in die Seele des Urhebers des Rechtsge- 
dankens,. 
Das individualistische, subjective Moment des Rechts führt 
dazu, dass man bei der Interpretation des Rechts dem 
Willen und der Meinung des Urhebers des formulirten Rechts- 
gedankens nachforscht; man sieht nach in den Berathungsproto- 
kollen, Motiven, Denkschriften u. s. w. Diese Interpretationsweise 
ist bekannt unter dem Ausdrucke: „den wahren Willen des 
Gesetzgebers erforschen.“ Man nimmt dabei an, der Gesetz- 
geber habe bei der Sanktionirung den Rechtsgedanken so ver- 
standen und so genehmigt, wie ihn der Urheber gemeint hat. 
Wenn auch die Interpretationsmethode, wonach der wahre Wille 
des Gesetzgebers zu erforschen ist, von verschiedener Seite zu 
Gunsten der grammatischen Interpretation bestritten wird, so 
zeugt doch die Thatsache, dass der Richter sich mit Vorliebe 
auf den Willen des Gesetzgebers stützt, wie naheliegend und 
natürlich dieses Vorgehen ist?°. 
® Entgegen dem grammatikalischen Sinne darf sich der Richter un- 
bedingt auf den wahren Willen des Gesetzgebers berufen da, wo sonst eine 
Härte, eine Unbilligkeit entstehen würde, die offenbar nicht beabsichtigt ist. 
Andererseits ist zuzugeben, dass namentlich bei Auslegung singulären Rechts 
der Richter annehmen darf, der Gesetzgeber habe Fälle, die er nicht aus- 
drücklich benennt, auch nicht treffen wollen, „hätte er sie treffen wollen, so 
hätte er sich anders ausdrücken müssen“. Die Gründe, welche KoHLer, 
Kritische Vierteljahresschrift 1894 S. 515 gegen die Interpretationen des ge- 
setzgeberischen Willens anführt, treffen nicht so sehr diese selbst als viel- 
mehr die Annahme, der Richter sei an diesen einmal festgesetzten Sinn 
gebunden. Ich werde weiter unten ausführen, dass sich der Richter nicht 
nur zu fragen hat, was der #ichter zur Zeit des Gesetzeserlasses beabsichtigte, 
sondern sich auch die Frage vorlegen muss, wie der Gesetzgeber jetzt, bei 
den veränderten wirthschaftlichen und socialen Verhältnissen, wenn er sich 
zu äussern hätte, seine Bestimmungen ausgelegt wissen wollte.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.