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eines Menschen, die Fassung des Rechts in Sprachsätzen und
die Erlangung der Positivität.
Wenn wir uns mit dem Recht befassen, so versetzen wir
uns, weil wir den subjectiven Ursprung des Rechtes vor Augen
haben, unwillkürlich in die Seele des Urhebers des Rechtsge-
dankens,.
Das individualistische, subjective Moment des Rechts führt
dazu, dass man bei der Interpretation des Rechts dem
Willen und der Meinung des Urhebers des formulirten Rechts-
gedankens nachforscht; man sieht nach in den Berathungsproto-
kollen, Motiven, Denkschriften u. s. w. Diese Interpretationsweise
ist bekannt unter dem Ausdrucke: „den wahren Willen des
Gesetzgebers erforschen.“ Man nimmt dabei an, der Gesetz-
geber habe bei der Sanktionirung den Rechtsgedanken so ver-
standen und so genehmigt, wie ihn der Urheber gemeint hat.
Wenn auch die Interpretationsmethode, wonach der wahre Wille
des Gesetzgebers zu erforschen ist, von verschiedener Seite zu
Gunsten der grammatischen Interpretation bestritten wird, so
zeugt doch die Thatsache, dass der Richter sich mit Vorliebe
auf den Willen des Gesetzgebers stützt, wie naheliegend und
natürlich dieses Vorgehen ist?°.
® Entgegen dem grammatikalischen Sinne darf sich der Richter un-
bedingt auf den wahren Willen des Gesetzgebers berufen da, wo sonst eine
Härte, eine Unbilligkeit entstehen würde, die offenbar nicht beabsichtigt ist.
Andererseits ist zuzugeben, dass namentlich bei Auslegung singulären Rechts
der Richter annehmen darf, der Gesetzgeber habe Fälle, die er nicht aus-
drücklich benennt, auch nicht treffen wollen, „hätte er sie treffen wollen, so
hätte er sich anders ausdrücken müssen“. Die Gründe, welche KoHLer,
Kritische Vierteljahresschrift 1894 S. 515 gegen die Interpretationen des ge-
setzgeberischen Willens anführt, treffen nicht so sehr diese selbst als viel-
mehr die Annahme, der Richter sei an diesen einmal festgesetzten Sinn
gebunden. Ich werde weiter unten ausführen, dass sich der Richter nicht
nur zu fragen hat, was der #ichter zur Zeit des Gesetzeserlasses beabsichtigte,
sondern sich auch die Frage vorlegen muss, wie der Gesetzgeber jetzt, bei
den veränderten wirthschaftlichen und socialen Verhältnissen, wenn er sich
zu äussern hätte, seine Bestimmungen ausgelegt wissen wollte.