— 9892 —
den realen Verhältnissen in so ungenügendem Grade Berücksich-
tigung zu Teil werden liessen, als von ihnen selbst nicht verkannt
wurde, „dass, hingesehen auf die realen Verhältnisse des Lebens,
auf die wirtschaftlichen Nachteile und die sittlichen Gefahren,
welche dem Ehegatten und den Kindern drohen, wenn erstere
durch die Versagung des Scheidungsrechts gehindert wird, eine
neue Ehe einzugehen, vom sozialpolitischem Gesichtspunkte aus
gewichtige Gründe für die Zulassung der Scheidung wegen
Geisteskrankheit sprechen.“ Das Gewicht dieser unbedingt zwin-
genden Gründe wurde nicht vollständig beachtet und nicht ent-
sprechend in die Wagschale gelegt, während man den Gegen-
gründen eine ganz übertriebene Bedeutung beilegte. Die Paralleli-
sierung von körperlicher Krankheit und Geisteskrankheit erweist
sich bei näherer Betrachtung als ein Trugschluss schlimmster
Art; wenn auch selbstverständlich durch schwere körperliche Er-
krankung eines Ehegatten das Gemeinschaftsleben in einschnei-
dender Weise berührt wird, wenn auch nach zahlreichen Richtungen
hin dasselbe eine Störung erleidet, welche geduldig zu ertragen
nicht selten einen wahren Heroismus der Pflichterfüllung erfor-
dert, so wird doch auch bei schwerster körperlicher Erkrankung
in den meisten Fällen oder doch vielfach die geistige Gemein-
schaft aufrecht erhalten werden, es bleibt die geistige Grund-
lage der Ehe gewahrt, der geistige Kontakt, der gemeinsame
Gedankenaustausch, die Besprechung und Beratung gemeinsamer
Angelegenheiten ist nach wie vor möglich, vielleicht nur unter
Ueberwindung grosser Hindernisse, vielleicht sehr erschwert, aber
sie ist und bleibt möglich. Wie ganz anders aber in dem Falle,
wenn Geisteskrankheit den Ehegatten getroffen bat? Hier ist
von einer Aufrechterhaltung der geistigen Gemeinschaft keine
Rede mehr, der Kranke entbehrt des Verständnisses, zumeist
auf der Empfindung für das, was um ihn herum vorgeht, was
die anderen bewegt und beschäftigt, es ist mit ihm nichts mehr
zu besprechen und zu erwägen, die geistige Grundlage der Ehe