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freiere Interpretation oder durch eine neue oder veränderte juri-
stische Construction helfend eingreifen. Wir beobachten diesen
rechtsfortbildenden Factor der Rechtssprechung überall in allen
Ländern. Welche immer ausgedehntere Interpretation hat nicht
z. B. das schweizerische Bundesgericht den Grundsätzen der Rechts-
gleichheit, des Verbotes der Doppelbesteuerung u. s. w. angedeihen
lassen. Auf die allmählige Anerkennung der Delictsfähigkeit
juristischer Personen seitens der deutschen Gerichte und nament-
lich auch des deutschen Reichsgerichts hat erst jüngst GIERKE
aufmerksam gemacht‘,
Zu betonen ist aber, dass dieser rechtsausbildende Factor
der Rechtssprechung nicht auf dem freien subjektiven Ermessen
des Richters beruht. Der Richter soll eben durch Beobachtung
des Lebens, durch ein feines Verständniss für die modernen
Postulate des Rechtslebens, den muthmasslichen Willen des Ge-
setzgebers zu erforschen suchen. Nicht weil er es so meint,
sondern weil er der Ueberzeugung ist, dass der souveräne gesetz-
gebende Wille es billigen würde, darf der Richter mit der Zeit
vorwärtsgehen. Der Positivismus hat es nicht vermocht, diese
rechtsfortbildende Macht zu verhindern, wohl aber häufig den
Richter veranlasst, eine Form zu finden, worin dieser rechts-
fortbildende Factor untergebracht wird. Eine solche Form ist
z. B. die Auslegung des Parteiwillens; man sucht etwas als von
den Parteien gewollt hinzustellen, während es Rechtnormen sind,
welche dem muthmasslichen Willen des Gesetzgebers gemäss an-
gewendet werden.
Der rechtsfortbildende Factor der Rechtssprechung hat frei-
8 ITnerings Jahrbücher 1895, S. 234ffl. Aus der französischen Juris-
prudenz ist hervorzuheben, die Ausdehnung des Schadensersatzes auf dom-
mage moral und die Gewährung eines Anspruches der verführten Frauens-
person gegen den Verführer mit Rücksicht auf die Geburt und Kindschaft.
Zu verweisen ist auch auf den in der französischen, englischen, amerikanischen
und schweizerischen Rechtspflege ausgebildeten Schutz gegen illoyale Kon-
kurrenz (KoHLer, Juristisches Litteraturblatt 1896, S. 116).
Archiv für Öffentliches Recht. XII. 1. 3