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geistige Grundlage. Wie fruchtbar die dadurch geschaffenen Berührungen
sind, dafür geben namentlich die Berichte über die Kammer- und Reichs-
ratsverhandlungen die schlagendsten Belege.
Die Hauptsache freilich ist und bleibt der Verfasser selbst, der dieses
dankbaren Stoffes sich bemächtigt hat. Ich meine damit nicht die grosse
Kunst und Geschicklichkeit, mit welcher er ıhn behandelt. Was dem Werke
wieder sein Besonderes und einen eigenartigen Reiz verleiht, das ist die
ausgeprägte Individualität, die ihm ihren Stempel aufdrückt. Man kann
ein grosser Jurist und Gelehrter sein ohne Individualität; der Verfasser
aber ist eine solche. Er ist sich dessen auch wohl bewusst. Er hat sich
seiner Zeit mit dem offenen Bekenntnis seiner eigenartigen Geistesrichtung
zuerst eingeführt und hält das auch jetzt noch hoch. „Auf der ganzen
Linie menschlicher Wissenschaft, so beginnt die Einleitung seiner Grund-
züge einer allgemeinen Staatslehre 1893, dringt stetig und machtvoll eine
realistische Auffassung vorwärts“. Die „realistische Betrachtung“ (HoLTtzen-
porFrr’s Zeitschrift III. S. 272), die „reale Betrachtung“ (Abhandlungen
$. 112) ist ihm das überall massgebende. Die „idealistische Auffassung“
freut er sich ad absurdum zu führen (Band II. S. 2). Realistisch, d.h. die
Wirklichkeit im Auge habend, will wohl jeder Jurist sein oder sollte es
sein wollen. Aber SevpeL meint das mit besonderer Schärfe. Er misstraut
jenem Rechnen mit selbständig gewordenen abstrakten Begriffen, das ja
nur zu leicht ein wissenschaftliches Spiel wird zur Verhüllung der Wirk-
lichkeit. Gegenüber der alten Hegelei, die in unserer Litteratur noch eine
viel grössere Rolle spielt, als man gemeiniglich annimmt, wie gegentiber
den neueren Formen derselben Geistesart, vertritt er eine, im wesentlichen
Kern gesunde Reaktion der Nüchternheit. Das Bewusstsein des guten
Rechtes seines Standpunktes gibt seiner Darstellung überall eine überlegene
Ruhe und Sicherheit. Dazu passt denn auch ganz vortrefflich ein gewisser
trockener Humor, der häufig in die strenge Sachlichkeit hineinblitzt, um
auf die Dinge, die er verkehrt findet, ein scharfes Licht zu werfen. —
Man wird von vornherein nicht erwarten dürfen, dass der Verfasser
bei Gruppierung seines Stoffes irgend welcbem Zwang eines hergebrachten
Schemas sich unterwerfe. Im Gegenteil entspricht es nur seiner Art,
wenn er seine Unabhängigkeit dem gegenüber kräftig zur Geltung bringt.
So hat er denn auch die übliche Zweiteilung in Staatsrecht im engeren
Sinne oder Verfassungsrecht einerseits, und Verwaltungsrecht andererseits
— die unseres Erachtens sachlich eine grosse Bedeutung hat — nicht zur
Grundlage der äusserlichen Anordnung genommen. Wenigstens in der
Ausdrucksweise weicht er davon ab, indem er die beiden termini technici
in einem besonderen beschränkteren Sinne gebraucht, als sonst geschieht.
Für das Verfassungsrecht ergab sich eine solche Abweichung von
selbst aus den eigenartigen Anschauungen des Verfassers vom Staate, auf
welche wir unten noch zurückkommen werden. Der Staat ist ihm nur das