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losen Gewalt des Statthalters, welches zu allen unseren modernen
Rechtsbegriffen, zu der ganzen Lehre vom Rechtsstaat, zu den
Theorien über Gesetz und Verordnung, über die formelle Rechts-
kraft der Reichsgesetze und über die bindende Kraft der Gesetze
überhaupt im schärfsten Gegensatze steht, so wenig nachhaltigen
Widerspruch gefunden hat, dass sogar zwei namhafte Schrift-
steller auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts — OTTO MAYER
und LEonı — für dieses Dogma eingetreten sind. In der fol-
genden Abhandlung soll der Nachweis versucht werden, dass der
Diktaturparagraph dem Statthalter kein schrankenloses Recht
gewährt, dass für die Rechte des Statthalters dieselben Schranken
bestehen, wie für die Rechte aller übrigen Behörden, nämlich
die Vorschriften der geltenden Reichs- und Landes-Gesetze.
II.
Um sich von der Unrichtigkeit der herrschenden Theorie zu
überzeugen, braucht man sich nur die Konsequenzen derselben
klar zu machen. Bei „Gefahr für die öffentliche Sicher-
heit“ soll der Statthalter die Befugniss haben, alle Massregeln
zu treffen, welche er zur Abwendung der Gefahr für erforderlich
erachtet. Gefahr für die öffentliche Sicherheit kann von zwei
Seiten her drohen: von Aussen und von Innen. Zur Abwendung
der von Aussen drohenden Gefahren sind verschiedene Mass-
regeln denkbar: Schutz- und Trutz-Bündnisse, Garantie- und Neu-
tralitäts-Verträge mit auswärtigen Mächten, Verstärkung der
eigenen Wehrkraft und der eigenen Finanzkraft, Anlage von Be-
festigungen, Verbesserung der Verkehrswege, Vermehrung der
Transportmittel, Besetzung der wichtigsten Stellen in Heer, Diplo-
matie und Verwaltung mit fähigen und energischen Männern u.s.w.
Niemand nun wird im Ernst behaupten wollen, der Statt-
halter könne bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit auf eigene
Faust auswärtige Politik treiben, Bündnisse mit Oesterreich und
Italien schliessen, Neutralitätsverträge mit Russland vereinbaren,