— 560 —
Die Zuständigkeit des Kaisers, des Bundesraths, des Reichs-
tags, des Landes-Ausschusses, des preussischen Kriegsministers,
der kommandirenden Generäle und Festungskommandanten zur
Vornahme der oben aufgezählten Massregeln ist also ebenfalls
durch Gesetz begründet. Dem Gesetze, welches die Macht-
befugnisse des Statthalters geschaffen hat, stehen also andere
Gesetze gegenüber, welche anderen Behörden ebenfalls Macht-
befugnisse verleihen. Die Frage, ob 8 10 des Gesetzes vom
30. Dez. 1871 durch diese anderen Gesetze eingeschränkt werde,
ist lediglich nach den allgemeinen Grundsätzen zu entscheiden,
nach welchen die zeitliche, räumliche und sachliche Geltung der
Gesetze überhaupt beurtheilt wird, also nach den bekannten
Rechtsregeln „Reichsrecht bricht Landrecht“, „lex posterior de-
rogat priori*, „in toto jure generi per speciem derogatur“ u. s. w.
Die Gesetze nun, welche die Zuständigkeit der staatlichen
Organe, der Reichs- und Landesbehörden regeln, haben keine
höhere Autorität und keine grössere Kraft, als die übrigen Ge-
setze. Was für die Zuständigkeitsgesetze gilt, muss daher auch
für alle übrigen Gesetze ohne Ausnahme gelten.
Das Gesetz, welches dem Statthalter Rechte verleiht, wird
also beschränkt durch die Gesetze, welche anderen Personen
Rechte verleihen, sofern diese Gesetze nur von einer höheren
Rechtsquelle herrühren oder später erlassen sind oder als Spezial-
gesetze dem später erlassenen generellen Gesetze vorgehen.
Als Resultat dieser Ausführungen ergiebt sich also: 8 10
des Gesetzes vom 30. Dez. 1871 überträgt dem Statthalter kein
schrankenloses Recht, sondern ein beschränktes Recht. Die
Schranken seines Rechts bilden die bestehenden Reichs- und
Landes-Gesetze. Die Massregeln, welche der Statthalter gemäss
8 10 des Gesetzes vom 30. Dez. 1871 treffen kann, können
also nur gesetzmässige, nicht auch gesetzwidrige Mass-
regeln sein.