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Aus der Stellung, welche der Diktaturparagraph in dem Ge-
setz vom 30. Dez. 1871 erhalten hat, sowie aus den übrigen Be-
stimmungen dieses Gesetzes ist zu schliessen, dass dieser Para-
graph gar nicht die Tragweite hat, welche die herrschende Theorie
ihm beilegt, dass dieser Paragraph lediglich eine Kompetenz-
bestimmung enthält, wie alle übrigen Paragraphen desselben Ge-
setzes. Der Sinn des Diktaturparagraphen ist lediglich folgender:
Bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit hat der Oberpräsident
eine erweiterte Kompetenz; bei Gefahr für die öffentliche Sicher-
heit kann der Oberpräsident alle Massregeln der inneren Ver-
waltung vornehmen, welche nach den bestehenden Gesetzen zur
Kompetenz des Reichskanzlers (8 6 des Gesetzes vom 30. Dez.
1871), eventuell auch des Kaisers ($ 18 a. a. ©.) oder der Militär-
behörden (Art. 9 des Gesetzes vom 9. Aug. 1849) gehören. Der
Diktaturparagraph bestimmt also für die Verwaltung genau das-
selbe, was $ 163 der Strafprozessordnung für die Gerichte be-
stimmt, nämlich: Bei Gefahr im Verzuge ist der Oberpräsident
ermächtigt und verpflichtet, die augenblicklich erforderlichen
Verwaltungshandlungen vorzunehmen, auch wenn diese Verwal-
tungshandlungen unter normalen Verhältnissen nicht zu seiner
Kompetenz, sondern zur Kompetenz anderer Verwaltungsbe-
hörden gehören. Diese Verwaltungshandlungen müssen selbstver-
ständlich gesetzmässige' sein, ebenso wie die in 8 163 der Straf-
prozessordnung erwähnten richterlichen Handlungen gesetzmässige
sind, obwohl dies in dem Gesetz nicht ausdrücklich hervorge-
hoben ist.
In diesem Sinne ist der Diktaturparagraph auch von dem
Abgeordneten von PUTTKAMER-FRAUSTADT, dem heutigen Staats-
sekretär der Reichslande — also gewiss einem kompetenten Be-
urtheiler — in der Reichstagssitzung vom 3. März 1874 ausgelegt
worden. Derselbe hat in der genannten Sitzung wörtlich Folgendes
erklärt: „Ich frage, was will der Eingang des Paragraphen be-
sagen? Zunächst regelt derselbe die Kompetenz. Die