— 57 —
eines Reichsgesetzes beilegen wollen, so ist dies stets in der Form
geschehen, dass das fragliche Landesgesetz ausdrücklich „zum
Reichsgesetz erklärt“ wurde’. Der Diktaturparagraph ist
nicht ausdrücklich zum Reichsgesetz erklärt worden. Alle diese
Erwägungen führen zu dem Resultat, dass & 10 des Gesetzes
vom 30. Dez. 1871 trotz seiner Bezugnahme in einem Reichs-
gesetz ein Liandesgesetz geblieben ist und durch Landesgesetz
geändert bezw. ganz aufgehoben werden kann. Wenn aber 8 10
ein Landesgesetz geblieben ist, so bilden die Reichsgesetze nach
wie vor eine Schranke für die durch $& 10 begründeten Macht-
befugnisse des Oberpräsidenten.
OTTO MAYER beruft sich zur Begründung seiner Ansicht,
dass der Statthalter weder an Reichs- noch Landesgesetze ge-
bunden sei, auf die „langjährige, stillschweigende Billi-
gung von Kaiser und Reich“’®. Es kann zugegeben werden,
dass die gesetzgebenden Faktoren des Reichs ebenfalls an das
Dogma von der schrankenlosen Gewalt des Oberpräsidenten und
des Statthalters geglaubt haben. Jedenfalls aber haben Kaiser
und Reich eine authentische Interpretation des Diktaturpara-
graphen niemals gegeben; desshalb ist eine wissenschaftliche und
logische Interpretation dieses Paragraphen trotz der langjährigen
stillschweigenden Billigung von Kaiser und Reich jeder Zeit
möglich und zulässig.
Der Verfasser der Schrift „Das Recht der Wiedergewonnenen*
vertritt die Ansicht, der Statthalter müsse, wenn er vom Dik-
taturparagraphen Gebrauch machen wolle, vorher eine öffentliche
5 Vgl. No. 2 8 6 Art. 79 des Vertrages vom 23. Nov. 1870 (Reichs-
gesetzblatt von 1871 S. 16): „Die nachstehend genannten, im Norddeutschen
Bunde ergangenen Gesetze werden zu Gesetzen des Deutschen Bundes
erklärt“; ferner $ 2 des Gesetzes vom 16. April 1871 (Reichsgesetzblatt
S.63): „Die dort bezeichneten Gesetze sind Reichsgesetze“; Gesetz vom
2. Nov. 1871 (Reichsgesetzblatt S. 372), Gesetz vom 8. Nov. 1871 (Reichs-
gesetzblatt S. 391), Gesetz vom 10. Nov. 1871 (Reichsgesetzblatt S. 392) u. s. w.
55 Orro Mayer: „Theorie des französ. Verwaltungsrechts“, S. 11 Anm.