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zum Verständnisse des Rechts der Gegenwart, so liesse sich diese Schätzung
begreifen. Das ist jedoch nicht der Fall; neben der Geschichte und mehr
noch als diese dient zur Erfassung des lebenden Rechts die Beobachtung des
wirthschaftlichen und sozialen Lebens. Die Rechtsentwicklung ist nicht die
harmonische, einheitliche und allmähliche einer Blume; wirthschaftliche Um-
wälzungen, wie wir sie in diesem Jahrhundert beobachten konnten, haben
auf die Rechtsentwicklung grössere Einwirkung gehabt, als die politischen
Ereignisse von Jahrhunderten. Denken wir auch an den bedeutenden Ein-
fluss, welchen die sozialpolitische Richtung der Wirthschaftslehre auf unser
heutiges Recht ausgeübt hat.
Dagegen geht SEITZ zu weit, wenn er über den Kultus des alten anti-
quirten Rechts klagt. Es mögen ja in dieser Richtung Einseitigkeiten und
Uebertreibungen vorgekommen sein und noch vorkommen, wesentlichen Ein-
fluss haben sie nicht erlangt.
Wenn wir dem kritischen Theil des vorliegenden Werkes denjenigen
Werth, den ihm der Verfasser offenbar beimisst, nicht völlig zuerkennen
können, so erklären wir um so lieber unsere Zustimmung zu den positiven
Forderungen des Verfassers, die auf eine empirisch-induktive Methode hin-
zielen. Freilich macht Sertz es dem Leser schwer, seinem Gedankengange
zu folgen. Die Darstellung ist breit und weitschweifig, mit Bildern und
Gleichnissen völlig durchsetzt, welche das Verständniss nicht erleichtern,
sondern erschweren. SEITZ bemerkt, er habe die Form der Plauderei ge-
wählt; ich finde es nicht. Jedenfalls liegt das Durchsichtige, Leichtfassliche,
Anregende, das wir der Causerie zuzuschreiben gewohnt sind, der Darstellung
völlig ferne. Der Verfasser betont beständig seine Eigenschaft als Praktiker;
aber gerade ein Praktiker hätte durch Einfachheit, Klarheit und Knappheit
der Darstellung zu wirken suchen sollen. Statt dessen treffen wir Ab-
schweifungen, Wiederholungen und Subjektivitäten. Weniger wäre auch hier
mehr gewesen.
A. Affolter.
l. Verfassung des Deutschen Reichs. Mit Einleitung und Kommentar
von Dr. Adolf Arndt, Oberbergrat und Professor der Rechte in Halle
a. S. Berlin, J. Guttenberg, 1895. XII, 339 S. Kart. M. 3.
2. Die Verfassungsurkunde des Deutschen Reichs. Erläutert von
Dr. Philipp Zorn, Geh. Justizrat und ord. Professor der Rechte in
Königsberg i. Pr. Berlin, ©. Heymann’s Verlag, 1895. XII, 214 8.
M. 2.—
Arnpts Kommentar zur Reichsverfassung wird, wie seine preussische
Verfassungsurkunde, längst überall günstige Aufnahme gefunden haben, auch
da, wo seine Ansichten nicht ganz geteilt werden. ARNDT verteidigt sich
im Vorworte gegen den Vorwurf, dass seine staatsrechtlichen Arbeiten die
Archiv für Öffentliches Recht. XI. 1. 10