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Demnach ist es unzulässig, die Rechtsnormen (ihrem Inhalte
nach) auf einen einzigen Entstehungsgrund zurückzuführen. Viel-
mehr werden verschiedene Ursachen neben einander wirksam, und
nur bei ganz einfachen Verhältnissen, wo geistige Bildung und
wirthschaftliche Interessen der Stammesgenossen noch bei ihnen
allen durchaus gleichartig sind, kann das volksthümliche Element
der Rechtsbildung so sehr in den Vordergrund treten, dass es
bei der wissenschaftlichen Betrachtung allein berücksichtigt zu
werden braucht. Dies geht aber nicht mehr an, wenn sich für
engere Gruppen verschiedenartige Zustände und hieraus Unter-
schiede in deren Anschauungen und Bedürfnissen entwickeln, die
zu Interessenkämpfen führen, während man zugleich eine Spaltung
der Rechtsordnung nach Ständen vermeiden will oder nicht zu-
lassen kann, weil es sich gerade um die Beziehungen der ver-
schiedenen Bestandtheile der Bevölkerung zu einander handelt.
Dann wird für die Rechtsbildung noch das weitere Element der
Macht von Bedeutung. Und so liessen sich vielleicht noch mehr
Ursachen für die Entwickelung der einzelnen Theile einer be-
stimmten Rechtsordnung auffinden.
Unter den neueren Arbeiten über die Entstehung des Rechts
ist vor allem die schon angeführte Schrift von BIERLING, „Zur
Kritik der juristischen Grundbegriffe. Erster Theil“ hervorzuheben.
Seine Beweisführung geht von einer Kritik der bisherigen An-
sichten aus. Zum verfassungsmässigen Zustandekommen eines
Gesetzes gehört einmal ein Thätigwerden bestimmter Personen,
und sodann müssen diese in Gremässheit bestimmter Normen vor-
gehen. Nun lässt sich die verbindende Kraft des Willens jener
Personen nicht unmittelbar aus einer persönlichen oder sogenannten
rein thatsächlichen Qualifikation derselben (als von Gott gesetzte
Obrigkeit oder dergl.) ableiten, vielmehr müssen immer wieder
gewisse anerkannte Normen als Grundlage für die gesetzgeberische
Stellung irgend eines Subjekts vorausgesetzt werden (Glaube an
die verbindende Kraft: des postulirten göttlichen Gebotes u. s. w.).