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Für die Ergebnisse der bisherigen Erörterungen ist das
Bestehen eines organisirten Gemeinwesens nicht Bedingung. Die
Bildung allgemein gültiger Normen erfordert nur das Vorhanden-
sein einer Kulturgemeinschaft, welche die Entstehung überein-
stimmender Grundsätze in weiteren Kreisen ermöglicht. Daher
ist auch das Bestehen eines positiven Völkerrechts nicht zu leug-
nen; was ihm fehlt, ist nur das Vorhandensein einer höheren
Gewalt, welche die Befolgung der Normen erzwingt. Die gegen-
theilige Ansicht verkennt das Verhältniss der beiden Funktionen
der Rechtserzeugung und der Aufrechterhaltung des Rechts durch
den Staat. Soweit das einzelne Subjekt des Völkerrechts seine Be-
fugnisse mit seinen Machtmitteln durchzuführen vermag, ist es dazu
nach dem vorhin Ausgeführten auch berechtigt. Im Uebrigen muss
man sich freilich auf die Wirksamkeit der zum Gehorsam gegen
die Völkerrechtssätze treibenden Beweggründe verlassen; deren gibt.
es ja aber auch in genügender Zahl und von genügender Stärke.
Die so begründeten Befugnisse sind noch keine positiv-
rechtlichen und die gewaltsam zur Anwendung gebrachten Rechts-
gedanken an sich noch keine Rechtssätze. Denn Voraussetzung
ist bisher, dass nach der Ueberzeugung des Machtinhabers so-
wohl seine Befugnisse im Allgemeinen, wie der von ihm vertretene
einzelne Rechtsgedanke aus den Geboten der Vernunft folgen.
Von dem Augenblicke an, wo er diesen Glauben verliert,
würde eine Fortsetzung seiner Handlungsweise unsittliche Willkür
sein. Käme nur der Staat in Betracht, so könnten wir uns
dabei beruhigen, dass er seine Gesetze aufhebt, sobald er
die Ueberzeugung gewinnt, dass sie nicht oder nicht mehr
vernünftig seien, und dass durch diesen Widerruf das Ein-
treten seiner Sinnesänderung festgestellt werde. Aber in recht-
hchen Angelegenheiten handeln auch die Einzelnen. Bei diesen
geschlossen zu sein scheint mir dies nicht. Vgl. auch Sturm, Recht und
Rechtsquellen S. 86; den auf 8. 120—21 ausgesprochenen Ansichten kann
ich mich nicht überall anschliessen.