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er die, im Uebrigen als selbständig gedachte!?, Rechtsordnung
mit seiner überlegenen Macht schützt, so ist auch ein Wechsel
unter den einzelnen Rechtssätzen möglich. Die Obrigkeit beab-
sichtigt allerdings durchaus nicht, für eine solche Aenderung
Fürsorge zu treffen, auch nicht in Bezug auf die von ihr ge-
schaffenen Bestandtheile der Rechtsordnung. Aber sie kann sich
der Erkenntniss nicht verschliessen, dass ihre Gesetze wie alles
Menschenwerk vergänglich sind. Sie erhebt daher im Zweifel
keinen Widerspruch dagegen, dass ihre Satzungen, wenn die bei
ihrem Erlass vorhandenen Bedingungen hinweggefallen sind, ihre
Kraft verlieren, sei es auch auf dem Wege einer entgegengesetzten
(sewohnheit. Denn die Verbindlichkeit der staatlichen Anord-
nungen beruht im letzten Grunde auf denselben vernünftigen
Erwägungen wie die des Gewohnheitsrechts. Wie es als zweck-
mässig erscheint, den thatsächlich herrschenden Grundsätzen An-
spruch auf Gehorsam beizulegen, damit eine allgemein anwendbare
Norm 'entstehe, so ist es auch gerechtfertigt, bei der Entscheidung
der Frage, ob ein Rechtsgedanke gerecht und angemessen sei,
den Ausspruch der Staatsgewalt massgebend sein zu lassen. Denn
auch so wird ein allgemein gültiger Grundsatz festgestellt, und
durch die sich über die Einzelnen erhebende Stellung und die
überlegene Macht der Staatsgewalt seine thatsächliche Herrschaft
regelmässig gesichert. Aber darum brauchen noch nicht die von
der Obrigkeit ausgehenden Vorschriften allein Gültigkeit zu be-
sitzen; neben ihnen können durch andere Mächte ebenfalls wirk-
liche Rechtssätze geschaffen werden, Gesetz und Gewohnheitsrecht
sind an sich gleichstehende Rechtsquellen. Für beide gilt gleich-
mässig der Grundsatz: lex posterior derogat priori, das Gesetz
kann nicht nur durch eine neuere staatliche Anordnung, sondern
18 Diese Selbständigkeit schliesst nicht aus, dass der Staat sich an der
Rechtsbildung betheiligt. Selbst wenn er letztere allein für sich in Anspruch
nimmt, muss seine Thätigkeit als Erzeuger und als Erhalter der Rechtsord-
nung durchaus auseinander gehalten werden.