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auch durch eine Gewohnheit aufgehoben werden. Bei der vorhin
gegebenen Begründung der Gültigkeit des Gewohnheitsrechts ist
allerdings zunächst nur der Fall in’s Auge gefasst worden, dass
die Uebung eine Lücke der positiven Rechtsordnung ausfüllt.
Da aber deren Befehle nur einen und nicht einmal immer den
einflussreichsten Beweggrund der menschlichen Handlungen bilden,
so können Uebertretungen eines Rechtssatzes so häufig werden,
dass demgegenüber seine Verwirklichung die Ausnahme bildet
oder überhaupt nicht mehr vorkommt. Geht nun die Pflicht
zum Gehorsam gegen das Gesetz aus der Erwägung hervor, dass
es durch die Macht des Gesetzgebers zur Herrschaft: gebracht
werden werde, so erlischt sie auch, wenn die Erfahrung zeigt,
dass diese Erwartung sich nicht erfüllt. Das Aufhören der Geltung
eines Rechtssatzes (als thatsächlicher Zustand gedacht) bewirkt
auch das Aufhören seiner Geltung in dem Sinne von Verbind-
lichkeite. Hand in Hand hiermit geht dann vielfach die Ent-
wickelung einer neuen gewohnheitsrechtlichen Vorschrift, für die
eben durch das Verschwinden des alten Satzes Raum wird ?®.
Wie man sieht, liegt dieser Konstruktion die Auffassung zu
Grunde, dass objektives Recht ein zu thatsächlicher Herrschaft
gelangter Rechtsgedanke sei, und ich muss daher den Widerspruch
aller Derer erwarten, welche das Recht als das Erzeugniss eines
Willens betrachten. Die Gegner müssen dann aber auch die
Gründe darlegen, aus denen ein Wille, und sei es auch der des
Gemeinwesens, für denjenigen Anderer massgebend ist, vor Allem
aber auch die Geltung des Gewohnheitsrechts auf einen zur
Forderung von Gehorsam für seine Befehle berechtigten Willen
zurückzuführen im Stande sein?!, Die einzige hier in Betracht
20 Auf die Verschiebung dieses Verhältnisses durch ein staatliches
Verbot des Gewohnbeitsrechtse wird im nächsten Abschnitte eingegangen
werden.
21 Wine ganz andere Frage ist es, ob etwa die Gesetze im Gegensatz
zum Gewohnheitsrechte staatliche Befehle sind. Sie kann bejaht werden,