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geber ein einzelner Mensch, wie in der absoluten Monarchie, so
erfährt er von der Rechtsprechung vermuthlich recht wenig, und
eine durch seine Befragung versuchte Feststellung wird meistens
zu einem verneinenden Ergebnisse führen?. Ist er an die Zu-
stimmung einer politischen Körperschaft gebunden, so kann man
eher annehmen, dass deren Mitglieder in ihrer Eigenschaft als
Staatsbürger Gelegenheit haben, sich mit der Handhabung der
Gesetze durch die Gerichte vertraut zu machen. Aber eine
Nachforschung darnach, in welchem Umfange dies wirklich der
Fall ist, stösst auf die grössten Schwierigkeiten. Grenügt es für
das Reichsrecht, wenn die Mehrzahl der Mitglieder des Bundes-
rathes und des Reichstages Kunde von dieser Rechtsprechung
hat? Kann man überhaupt ohne Weiteres voraussetzen, dass sie
etwas von dem $ 2 des St.-G.-B. wissen? Und die Einzelnen,
deren Bekanntschaft mit der Praxis entscheiden soll, müssen doch
die Anwendung des neuen Rechtssatzes als Uebung erkannt
haben; wie sollen wir nun entscheiden, wenn der Gerichtsgebrauch
sich, wie es unvermeidlich ist, auf eine längere Zeit erstreckt
hat, als das Mandat eines Reichstages dauert?
Geht ferner die verpflichtende Kraft des Gesetzes allein aus
dem Willen seines Erzeugers hervor, so dauert sie auch nur so-
lange, als der letztere vorhanden ist und die Herrschaft über
das betreffende Rechtsgebiet und dessen Bewohner ausübt. Daraus
würde sich ergeben, dass bei allen Veränderungen der Staats-
grenzen ein Wechsel des geltenden Rechts eintreten oder der
neue Herrscher den Entschluss fassen müsste, die bisherige Ord-
nung bei Bestand zu lassen. Die erste Annahme steht mit einem
Jahrhunderte alten Herkommen in Widerspruch. Die letztere
ist abzulehnen, weil nach ebenso feststehender Uebung eine ent-
22 Binpixe scheint auch nach heutigem Staatsrechte den Gesetzgeber
mit dem Monarchen zu identifiziren, da er meint, jener könne durch fort-
gesetzte völlige Begnadigung seinen Willen, es solle ein bestimmtes Straf-
gesetz fürderhin keine Anwendung mehr finden, kundgeben.