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des Volkes als eines selbständigen Ganzen, sondern der Ueben-
den; sie ist auch bei ihnen nicht nothwendig eine einheitliche,
sondern kann bei den Einzelnen in den verschiedenen ange-
gebenen Gestalten auftreten, und sie ist endlich auch nicht die
eigentlich wirksame Ursache für die Bildung des Gewohnheits-
rechts, sondern nur eine Eigenschaft, welche die Uebung als
Verkörperung eines Rechtsgedankens erscheinen lässt. Soweit
sie vorliegt, können, wie ich im Gegensatz zu ZITELMANN®? an-
nehme, die Vorstellungen, die Norm bilde einen Bestandtheil der
positiven Rechtsordnung, und: sie entspreche der Idee der Ge-
rechtigkeit (sei de lege ferenda zu billigen) in einander ver-
schwimmen. Gewiss ist auch der Laie befähigt, beide auseinander-
zuhalten, aber falls er nicht gut logisch geschult ist, oft nur,
wenn ihm der Gegensatz deutlich in die Augen springt, wenn
ihm der positive Satz und der noch nicht geltende Rechtsgedanke
beide zum Bewusstsein kommen und dadurch in ihrer Gegensätz-
lichkeit hervortreten,. Beweisen lässt sich diese Behauptung
natürlich nicht, ihre Richtigkeit dürfte aber durch Beobachtungen
im Verkehr mit Laien sich bethätigen, ich wenigstens habe wieder-
holt derartige Erfahrungen gemacht. Der Laie, der nicht genauer
mit der geltenden Rechtsordnung vertraut ist, nimmt sehr leicht
an, dass das, was er für angemessen und billig hält, auch in
Wirklichkeit den herrschenden Rechtssätzen entspreche, und richtet
hiernach seine Handlungen ein. Dieser Irrthum hindert die
Entstehung eines Gewohnheitsrechts nicht unbedingt, da man
auch hier anerkennen muss, dass der in ihm enthaltene Rechts-
gedanke zur thatsächlichen Herrschaft gelangt ist und zwar
häufig in einer vermuthlich dauernden Weise. Denn wenn die
Betheiligten auch gewusst hätten, dass der von ihnen angewendete
Rechtssatz nicht bestehe, so würden sie doch in dem Falle wieder
auf ihre eigenen Anschauungen von Recht und Billigkeit zurück-
#% In der mehrfach angeführten Abhandlung S. 380.