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wenn auch der Richter annehmen darf, dass seine Ueberzeugung
sich mit ihnen decke, solange nicht Gründe für das Gegentheil
hervortreten. Desshalb hat WınpscHEID Recht, wenn er zwischen
gemeinrechtlichen und partikulären Gewohnheiten unterscheiden
will. Bei ersteren ist davon auszugehen, dass nach der allgemeinen
Auffassung des Volkes kein Zwiespalt zwischen den in der Uebung
zu Tage tretenden Rechtsgedanken und den Anforderungen der
Vernunft besteht. Von dieser Auffassung abzuweichen, ist der
Einzelne nicht befugt, weil seine entgegengesetzte subjektive An-
schauung keine massgebende Bedeutung hat und ihrerseits viel-
leicht fehlsam ist. (Gremeinem (rewohnheitsrechte gegenüber
kommen daher die vorhin entwickelten Grundsätze nur dann zur
Anwendung, wenn eine ältere Gewohnheit sich mit jüngeren
Ueberzeugungen nicht mehr in Einklang befindet. Meistens wird
dieser Zwiespalt aber durch die Gesetzgebung oder ein deroga-
torisches Gewohnheitsrecht beseitigt werden. Bei einer nur auf
beschränktem (sebiete herrschenden Uebung ist es dagegen sehr
wohl möglich, dass ein Widerspruch zwischen den Vorstellungen
des engeren Kreises und der übrigen Gesammtbevölkerung besteht.
Der Richter, der vom Standpunkte der letzteren aus die Gewohn-
heit für vernunftwidrig hält, darf sie dann nicht seinem Urtheile
zu Grunde legen. Diese Erwägungen führen aber dahin, dasselbe
anzunehmen, wenn der (Gewohnheitsrechtssatz mit einem aus
Zwweckmässigkeitsgründen eingeführten zwingenden Gesetze unver-
träglich ist. Falls z. B. in einer einzelnen Oertlichkeit eines
Landes, wo das Grundbuchsystem besteht, lange Zeit hindurch
auch die mittels blossen Vertrages zugestandenen Rechte an
Grundstücken als gültig behandelt wären, so würden doch die
Gerichte diesem Zustande entgegenzutreten haben. Bei den
heutigen verwickelten sozialen Verhältnissen wäre es endlich auch
denkbar, dass sich in einer bestimmten Berufsklasse Anschauungen
ausbildeten und in einer andauernden Uebung bethätigten, die
dem ausserhalb der Klasse stehenden Beurtheiler als in Wider-