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Man könnte zwar geneigt sein, einem feststehenden Gerichts-
gebrauche eine grössere Bedeutung beizulegen, weil durch ihn
doch immerhin ein Rechtsgedanke zu gesicherter Herrschaft
gelangt sei. Wie im Verkehr der Einzelnen die sittliche Ver-
pflichtung besteht, einem Rechtssatze, der die Voraussetzungen
allgemeiner Geltung erfüllt, sich zu unterwerfen, so könnte man
die eben berührte Warnung vor ungenügend begründeten Ab-
weichungen von einer gleichförmigen Rechtsprechung in eine wirk-
liche Verbindlichkeit zum Anschlusse an sie ohne Rücksicht auf
die eigene Billigung oder Missbilligung ihres Inhaltes umwandeln
wollen und sich hierfür auf die Nothwendigkeit einheitlicher
Rechtsanwendung in demselben Gebiete berufen. Wirklich fehlt
es hier auch nicht an der langandauernden und insoferne festen
Herrschaft des Satzes. Aber während beim Gewohnheitsrechte
aus ihr auch die Vermuthung einer Fortdauer dieser thatsäch-
lichen Geltung für die Zukunft abgeleitet werden darf, weil kein
Beweggrund für eine Wandlung in dem Verhalten der Uebenden
erkennbar ist, muss man bei der Thätigkeit der Gerichte gerade
mit einer solchen rechnen. Anlass zu einer Untersuchung darüber,
ob ein gewisser Rechtsgedanke wirklich einen bindenden Rechts-
satz bilde, haben wir erst, wenn der Richter im Fall der Ver-
neinung dieser Frage ihn anzuwenden sich nicht für berechtigt
hält. Das kann sich aber nur ereignen, wenn er entweder an
der Gerechtigkeit und Zweckmässigkeit des Grundsatzes zweifelt
oder meint, dass letzterer mit den Vorschriften der positiven
Rechtsordnung in Widerspruch stehe. Denn enthält das geltende
Recht für das fragliche Lebensverhältniss keine Bestimmung und
entstehen auch aus dem Inhalte des Satzes keine Bedenken
gegen ‚seine Verwendbarkeit, so muss ihn der Richter unbedingt
seiner Entscheidung zu Grunde legen, und eine Nachforschung in
Betreff seiner Eigenschaft als endgültiger oder als vorläufiger
Rechtssatz ist höchst überflüssig. Werden aber einmal Zweifel
an seiner Geltung laut, so ist zu erwarten, dass diese auch von