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angemessen und zweckentsprechend hält, aber einsieht, dass sie
sich aus der positiven Rechtsordnung nicht ableiten lassen, er sie
als Erzeugniss einer Rechtsüberzeugung auffasst und mit dieser
Begründung auch ferner zur Anwendung bringt, wenn er ihn aber
nicht billigt, ihn als unrichtige Folgerung oder Missverständniss
des wirklich geltenden Rechts bei Seite schiebt. Wohl aber hat
eine ausserordentlich lange Dauer der Uebung den Erfolg, dass
man auf den früher geltenden Rechtssatz nicht zurückkommt.
Gegen die Beseitigung einer Jahrhunderte alten Praxis als eines
Rechtsirrthums der Neueren sträubt sich unser Gefühl. Wie
das Recht selbst in der Ersitzung und der Verjährung die Ver-
wandlung zunächst bloss thatsächlicher Zustände in gültige und
anzuerkennende gutheisst, so muss es sich auch die Einwirkung
einer entsprechend längeren Zeitdauer auf seine eigenen Satzungen
gefallen lassen. Diese tritt leichter ein, wenn wir den neuen
Rechtssatz auch inhaltlich billigen, sie ist jedoch auch im ent-
gegengesetzten Falle nicht ausgeschlossen. Nicht darauf kommt
es z. B. an, ob wir den Grundsatz von der Verbindlichkeit form-
loser Verträge für zweckmässig halten, entscheidend ist vielmehr
allein die Länge des Zeitraumes, während dessen er jetzt schon
den Rechtsverkehr beherrscht hat®!.
Wenn man früher angenommen hat, dass die Verbindlichkeit
des Gerichtsgebrauches sich auf dasjenige einzelne Gericht be-
schränke, bei dem es sich bildet, so ist dies schon von WÄCHTER
(a. a. O.) als unrichtig dargelegt worden, soweit es sich um das
Verhältniss übergeordneter zu untergeordneten Behörden handelt.
61 Auf gewissen Rechtsgebieten kann eine mittels Uebung vor sich
gehende Fortbildung überhaupt nur in der Gestalt des Gerichtsgebrauches
auftreten, z.B. im Ehescheidungsrechte und im Strafrechte. Nur die Mög-
lichkeit einer Beseitigung bisheriger Rechtssätze durch Handlungen oder
vielmehr Unterlassungen Einzelner bleibt zweifelhaft, z. B. wenn andauernd
von einem im Gesetze begründeten Anspruche auf Ehescheidung seitens der
Bevölkerung kein Gebrauch gemacht oder wenn gewisse strafbare Hand-
lungen seitens der Verletzten nie zur Anzeige gebracht würden.