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gehaltene Politik dem ungarischen Staate eine grosse Festigkeit
im Innern und nach aussen giebt, ist richtig; insbesondere erklärt
sich hieraus auch, dass die „gemeinsamen Angelegenheiten“ mit
Oesterreich mehr und mehr zur societas leonina geworden sind:
Oesterreich zahlt etwa 70, Ungarn etwa 30 Prozent der gemein-
samen Ausgaben und der Wille Ungarns ist in Bezug auf Regelung
der gemeinsamen Angelegenheiten — „a series of treaties“ nennt
sie Verf. — der weit stärkere (II S. 167, 169, 173). Selbst die
Nachgiebigkeit des Kaisers in ungarischen Dingen scheint zeit-
weilig weiter zu gehen, als das monarchische Prinzip dies gestattet
und zu ertragen vermag.
Wie segensvoll dies politische System freilich für die Staats-
einheit ist, erkennen die Ungarn täglich und stündlich an ihrem
„gemeinsamen“ Oesterreich. Ein „polyglottes Monstrum“ hat einst
GERVINUS Oesterreich genannt und die Sache ist seitdem nicht
besser, sondern schlimmer geworden: in elf Sprachen wird in
Oesterreich offiziell der Eid geleistet (II S. 72) und die alte
starke germanische Ostmark verflüchtigt sich mehr und mehr in
eine lose Konföderation (II S. 90) von selbständigen polnischen,
czechischen, deutschen Staatsgebilden. Dass die Deutschen an
diesem Zerfall eines ruhmbedeckten deutschen Staates durch
innere Zerklüftung, durch Doktrinarismus, Eigensinn und politische
Einseitigkeit einen Hauptteil der Schuld selbst tragen, und in
hohem Grade selbst es sich zuzuschreiben haben, wenn die Zügel
des Regimentes an die Polen und die treibende Kraft an die
ÜÖzechen übergegangen ist, unterliegt ja leider keinem Zweifel
und wird auch von unserem Verf. richtig erkannt und stark be-
tont (II S. 95, 110). Ob das Verhängnis jetzt in elfter Stunde
noch aufgehalten und abgewendet werden kann, ist zweifelhaft.
Wenn für die Gesetzgebung mehr und mehr das Prinzip zur
Herrschaft gelangt, dass der Staat Oesterreich nur die Grund-
linien zieht, die Ausführungsgesetzgebung aber den „Ländern“
überlassen wird und von diesen in ganz verschiedener Weise er-