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Uebersieht man ferner, dass die gesammte Disziplinarbefug-
niss, von Warnung, durch Verweis und Geldstrafen, zur Entlassung,
in den wenigen Worten des $1 des Gesetzes vom 7. Mai 1851:
„Ein Richter, welcher:
1. die Pflichten verletzt, welche ihm sein Amt auferlegt,
oder
2. sich durch sein Verhalten in oder ausser dem Amte
der Achtung, des Ansehens oder des Vertrauens, die
sein Beruf erfordert, unwürdig zeigt,
unterliegt den Vorschriften dieses Gesetzes“,
niedergelegt war, so kann nur der aufrichtigsten Loyalität der
anwendenden Gerichte verdankt sein, dass nicht eine allgemeine
Rechtsunsicherheit hereinbrach; einzelne Fälle, in denen das Er-
messen diese Gesetzesworte zu Tageszwecken zu verwenden
trachtete, verdienen demgegenüber mit Stillschweigen übergangen
zu werden.
Kein Gesetz sagt, welches die Pflichten sind, die dem Richter
sein Amt auferlegt, namentlich welches darunter diese Pflichten
sind, durch deren Verletzung er dem Gesetze verfällt. Kein Ge-
setz sagt, durch welches Verhalten in oder ausser dem Amite er
sich der berufsmässigen Achtung, Ansehens, Vertrauens unwürdig
macht. Alle Entscheidung war dem Ermessen, und zwar dem
Ermessen der Aufsichtsbehörden (Appellationsgerichte bezw. Ober-
tribunal), anheimgegeben, nicht einmal in erster Instanz dem
Kollegium des Gerichts, welchem der Beschuldigte angehörte,
wenn dies Gericht ein Kreis- oder Stadtgericht war ($ 18 Ges,
v. 7. Mai 1851), während die Mitglieder der Appellationsgerichte
disziplinarisch doch wenigstens dem Urtheil ihres eigenen Gerichts,
also der Richter unterstanden, welche ihren Lebensverhältnissen
und dienstlichen Lage das Verständniss des Gleichgestellten ent-
gegenbrachten.
In diesem Zustande hat sich in Folge des Reichsgerichts-
verfassungsgesetzes zweierlei geändert ($ 23 Ges. betr. die Ab-
änderung der Disziplinargesetze, $ 78 Ausf.-G. zum R.-G.-V.-G.).
Das Recht der Aufsicht steht nicht mehr Rechtsprechungs-
stellen, sondern ausschliesslich dem Justizminister, dem Ober-