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sprechenden Kreis zugehöriger Rechtssätze ist in den theoretischen Grenz-
linien umso weniger scharf erkennbar, je weiter ihr praktisches Anwendungs-
gebiet reicht, je mannigfaltiger das staatliche Leben ihren Inhalt gestaltet.
Der grösste deutsche Bundesstaat hat dementsprechend nicht nur das an ge-
schichtlich überkommenen und legislativ neu ausgebauten Instituten, reichste,
sondern zugleich auch das am wenigsten übersichtliche Verwaltungssystem
unter allen anderen deutschen Bundesstaaten. Die Theorie des preussi-
schen Verwaltungsrechts kämpft daher mit den grössten Reibungshemm-
nissen und dieser Kampf wird dadurch natürlich nicht erleichtert, dass das
Verwaltungsrecht im preussischen Studien- und Prüfungssystem bisher die
denkbar untergeordnetste Rolle gespielt hat. Allmählich erst dämmert es
hier in den zuständigen Kreisen und es ist Hoffnung vorhanden, dass in ab-
sehbarer Zeit der „geprüfte“ Jurist in Preussen allmählich soweit im Ver-
waltungsrecht seines Heimathsstaates orientirt ist, wie der sächsische oder
bayrische Jurist. Dann wird das schöne grundlegende Werk OrTTo MayeEr’s
nach Verdienst weit in die Kreise der Praktiker gedrungen sein und dort
die Erkenntniss befestigen, dass das der Verwaltung eigenthümliche Öffentliche
Recht an Reichhaltigkeit und Formenfülle jeder der anderen befestigten
Rechtsdisziplinen gleichkommt, die es an praktischem funktionellen Werth
übertrifft. Bis auf Weiteres, his es gelingt, eine im Geiste des O. MayEr-
schen Verwaltungsrechts gehaltene Speziallitteratur zu schaffen, — es soll auch
in unserem Archiv an gesteigerten Bemühungen fortan nach dieser Richtung
nicht fehlen, — liegt der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit zumal
für das preussische Recht in der umfassenden Rechtsprechung der fachlichen
Gerichte, im Besonderen des kgl. preussischen Oberverwaltungsgerichts. Die
in 30 Bänden niedergelegten Entscheidungen dieses Gerichtshofes zeichnen
sich zumeist durch eine klare sachliche, dem Gekünstelten grundsätzlich ab-
gewandte juristische Erkenntniss des wirklichen Lebens und seiner Bedürf-
nisse aus. Ihre referirende und argumentirende Art ist so glücklich, von
der politischen Leidenschaft der suggestiven Worte nichts zu wissen, auch
da, wo der oberste Verwaltungsrichter in Diskussionen entscheidend eingreift,
die durch den täglichen Zank der Parteien der objektiven juristischen Lösung
fast entrückt scheinen. In dem Bestreben, die praktische Handhabung der
dort niedergelegten Rechtskenntniss und Rechtswissenschaft zu erleichtern,
den Zugang weiteren Kreisen zu eröffnen, haben zunächst die Mitglieder
des Öberverwaltungsgerichts B. v. Kamptz und ST. GENZMER die grosse
Sachkunde und ein feines Unterscheidungsvermögen fordernde Aufgabe
übernommen, die grundlegenden Entscheidungen nach Materien und inner-
halb derselben in systematischen Gruppen geordnet zur Darstellung zu
bringen. Ihnen schlossen sich in den folgenden Bänden Öberverwal-
tungsgerichtsrath Pr. FrEYTas, Verwaltungsgerichtsdirektor A. GERMERS-
HAUSEN, Regierungsrath M. Dırksen und Landgerichtspräsident E. BARRE
bei der Durchführung des grossen und verdienstvollen Unternehmens er-