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sowohl dem Bundesrate als dem Reichstage gegenüber, ferner die
Befugnis, in diesen beiden Körperschaften eine selbständige An-
sicht zu vertreten, hätten dem selbständigen Bundespräsidialorgan
von vornherein zugewiesen werden müssen, da ihm ein Hauptteil
der Vollziehung für den Bund zufiel; indes hat die Entwicklung
von selbst, wenigstens teilweise, zur Erfüllung dieser Erforder-
nisse geführt. — Die Gefahr, welche, wie besonders v. MOoHL
behauptet hat, für die Aufrechterhaltung der Verfassung daraus
erwachsen soll, dass einem der Hauptorgane des Reichs die
thatsächliche Möglichkeit gegeben ist, unter Verweigerung seiner
durch nichts zu ergänzenden Thätigkeit durch Bruch der Ver-
fassung jedes Reichsgesetz zu verhindern, — diese Gefahr ist in
Wirklichkeit auch nicht so gross, wie es auf den ersten Blick
allerdings scheinen möchte. Von der Stellung des Kaisers im
Reichsgesetzgebungsverfahren gilt der Spruch: „Fortiter in re,
suaviter in modo.* Die politische Macht des Kaisers in An-
sehung des materiellen Ganges der Reichsgesetzgebung ist mit
den geringen Befugnissen, die ihm in seiner Eigenschaft als Reichs-
organ kraft der Verfassung zustehen, nicht erschöpft. Das deutsche
Kaisertum ist untrennbar verknüpft mit dem preussischen König-
tum; die ganze Macht, welche der König von Preussen auf den
materiellen Gang der Reichsgesetzgebung auszuüben vermag,
steht politisch thatsächlich auch dem deutschen Kaiser zu Gebote.
Die Macht des Königs von Preussen ist aber eine überaus be-
deutende; zum Teil ist sie die natürliche Folge der bei Abfassung
des Reichsgrundgesetzes befolgten Prinzipien, so die 17 Stimmen
im Bundesrate, zum Teil beruht sie auf exzeptionellen Verfassungs-
bestimmungen, so das partielle Veto in Art. 5 Abs. 2. Hiernach
vermag der König von Preussen einmal alle Verfassungsänderungen
zu hindern, ausserdem jedes Gesetz, welches auf dem Gebiete
des Militärwesens, der Kriegsmarine oder der in Art. 35 be-
zeichneten Abgaben eine Aenderung der bestehenden Einrichtungen
bezweckt. Da nun zufolge der unlöslichen Verbindung des