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und insbesondere deren Unvollständigkeit kann aber wiederum
verschiedene Wurzeln haben. Es kann eine und dieselbe Rechts-
norm, ein und dasselbe Rechtsinstitut in zwei Staaten mit dem-
selben Wortlaut codifizirt sein, und dennoch in beiden Staaten
einen verschiedenen Inhalt haben!*, Eine Bestimmung, die in
18 Für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder der
österreich-ungarischen Monarchie bestimmt $ 5 des Gesetzes vom 21. Dez.
1867 No. 146 R.-G.-Bl. betreffend die allen Ländern der österreichischen
Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten: „Die Verwaltung der gemeinsamen
Angelegenheiten wird durch ein gemeinsames verantwortliches Ministerium
besorgt, welchem jedoch nicht gestattet ist, neben den gemeinsamen An-
gelegenheiten auch die besonderen Regierungsgeschäfte eines der beiden
Reichstheile zu führen.“ Ganz analog, nur etwas wortreicher bestimmt für
die Länder der ungarischen Krone der Gesetz-Artikel XII vom Jahre 1867
im 827: „Ein gemeinsames Ministerium ist für die Gegenstände zu errichten,
welche als in der That gemeinsame weder der besonderen Regierung der
Länder der ungarischen Krone, noch der übrigen Länder Seiner Majestät
gehören. Dieses Ministerium darf neben den gemeinsamen Angelegenheiten
die besonderen Regierungsgeschäfte weder des einen, noch des anderen
Theiles führen, noch auf dieselben Einfluss üben.“ — Vom Standpunkte
einer formal-juristischen Betrachtungsweise müsste man annehmen, dass die
staatsrechtliche Stellung der gemeinsamen Regierung in beiden Reichshälften
der österreichisch-ungarischen Monarchie eine identische ist. Thatsächlich
ist dies aber nicht der Fall. In der österreichischen Reichshälfte giebt es
genau so, wie deren Verfassung normirt, eine Regierung für die Angelegen-
heiten der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder (für welche
der Gesammtname Oesterreich bekanntlich nicht ex professo kodifizirt ist) und
eine Regierung für die gemeinsamen Angelegenheiten der Monarchie, welche
beiden Regierungen neben einander bestehen, ohne dass ihre Zirkel sich kreuzen.
Die gemeinsame Regierung stützt sich in keiner Weise, weder formell, noch
materiell auf die österreichische Regierung. Die gemeinsame Regierung übt
und hat keinen Einfluss auf die österreichischen Verhältnisse, die öster-
reichische Regierung keinen auf die gemeinsamen Angelegenheiten. In Ungarn
ist dies anders: dort stützt sich die gemeinsame Regierung formell
und materiell auf die ungarische Regierung, die erstere erscheint
und ist ein Theil der letzteren. Die gemeinsame Regierung übt und hat
keinen Einfluss auf die ungarischen Verhältnisse, aber die ungarische Regie-
rung übt und hat einen geltenden, materiell und formell in die Er-
scheinung tretenden Einfluss auf die gemeinsamen Angelegenheiten.
Diese Verschiedenheit der Stellung der gemeinsamen Regierung in den beiden