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Vielgestaltig, der Unbegrenztheit der Wissenschaft entspre-
chend, sind die Aufgaben, welche auch bei dieser Arbeitstheilung
für jeden dieser drei Zweige der Staatswissenschaft sich ergeben.
Die Dogmatik hat zu ihrer nächsten, weil dringendsten
Aufgabe die Darstellung des positiven Rechtes der einzelnen
Staaten, darüber hinaus die begriffliche Erfassung des gemein-
samen Inhaltes der positiven Staatenrechte, die Systematik des
allgemeinen Staatsrechtes.
Aber auch die begriffliche Erfassung und logische Darstel-
lung des positiven Rechtes gewesener Staaten oder der gegen-
wärtigen Staaten auf einer bestimmten früheren Entwicklungs-
stufe ist noch immer Dogmatik, und wenn ein Systematiker des
allgemeinen Staatsrechtes als die Objekte, deren gemeinsamen
Inhalt er begrifflich zusammenfassen will, die positiven Staats-
rechte der gegenwärtigen und der früheren Staaten nimmt, so
ist das noch immer allgemeines Staatsrecht. Wenn er endlich
diese Objekte, statt sie auf ihren gemeinsamen Inhalt zu prüfen,
auf ihr Verhältniss zu einander ansieht und untersucht, wie das
positive Staatsrecht des einen Staates sich aus dem positiven
Staatsrechte des anderen, bezw. früheren Staates entwickelt hat,
so ist seine Arbeit, soferne er eben die Entwicklung der Be-
griffe zur Darstellung bringt und nicht mit der Entwicklung der
historischen Thatsachen vermengt, noch immer dogmatische Arbeit.
Denn die Auffassung, welche alle Betrachtung des Gewesenen
der Geschichte zuweisen wollte, wäre eine ebenso aufliegend un-
richtige, als die, welche alles, was noch nicht abgethan ist, von
der Berücksichtigung der Geschichtswissenschaft ausschliessen
wollte 2®,
Die Aufgabe der Rechtsgeschichte ist zu erforschen und
darzustellen, was war, das Material zusammenzutragen für die
logische Beurtheilung: die letztere selbst ist nicht Aufgabe der
* Vgl. Linea, Allgemeines Wahlrecht, 1895, 8. 6.
Archiv für öffentliches Recht. XIV. 2. 17