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zistische Theorie in Betracht kommt. Dieses Uebel aber ist die
mangelhafte Ausgestaltung des Völkerrechtes oder richtiger noch
der absolute Mangel eines „Völkerrechtes“ im eigentlichen begriff-
lichen Sinne dieses Wortes. Um diesen Punkt also darf sich die
Wissenschaft von jetzt ab nicht mehr mit der bisherigen Scheu
herumdrücken; sie hat jetzt offen Farbe zu bekennen, ob das
„bestehende ÖOrganisationswerk der Staatengesellschaft“ wirklich
als ein völkerrechtlicher Mechanismus anzusehen oder dieser Aus-
druck dafür nicht angebracht ist?
Diese Frage ist neulich in einer kleinen Schrift über „Hohe
Politik von B. O. T. ScHAFTErR!, welche sich streng auf den
„Standpunkt der praktischen Diplomatie“ stellen will, aber doch
einen gleichsam unwillkürlichen Nothschrei der Praxis nach einer
besseren, rationelleren Ausgestaltung der Theorie enthält, mit
einer Entschiedenheit verneint worden, gegen welche sich bei
gründlicher und vorurtheilsfreier Erwägung der einschlägigen
Fragen kaum etwas wird einwenden lassen.
Bei einer derartigen Erwägung wird man, um wieder mit
STOERK zu reden, „in das urewige Gebiet der juristischen Ter-
minologie geführt, ohne die wir doch bei keiner auch noch so
geringfügigen oder schicksalsschweren rechtlichen Ordnung eines
Problems auskommen können“, Die Terminologie kennt einen
allgemein feststehenden Begriff des „Rechtes“, nämlich das
„bürgerliche“ oder „staatliche“ Recht, d. h. den Inbegriff der-
jenigen Normen, mittelst deren sich die Gesellschaft der einzelnen
Individuen zum souveränen Staate zusammenschliesst. Es gibt
also ganz bestimmte wesentliche Merkmale, welche dieser Zu-
sammenschluss aufweisen muss, wenn er den Anforderungen der
modernen Kulturentwickelung voll entsprechen soll: es handelt
sich hierbei einerseits um die Konstituirung einer souveränen
Staatsgewalt, welche als die Personifikation der Rechtsidee den
» Hohe Politik, kritische Randbemerkungen zum internationalen Leben
der Gegenwart. Berlin, Hermann Walther, 1898.