291
entbehrlich erachtet. Hierdurch ist zwar eine Milderung der
Strenge der Rechtsregel erreichbar, wenn für jeden einzelnen
Fall die zutreffenden begleitenden Umstände in Erwägung gezogen
und ihnen gebührende Rechnung getragen wird. Doch muss es
als eine bedenkliche Vorschrift gelten, dass dem arbiträren Er-
messen der Polizei eine Machtbefugniss beigelegt und ihr eine
Entscheidung anvertraut wird, welche tief in das Privatrecht
eingreift und zu einer Rechtsungleichheit führen kann, ohne dass
es ein Rechtsmittel giebt, eine nicht völlig gerechtfertigte Leer-
stellung ausser Kraft zu setzen, sowie deren schädigende Folgen
zu heben. Man versetze sich in die Lage, ein Familienvater sei
ausser Stande, einen grösseren Bruchtheil seines Einkommens für
Wohnungsmiethe auszugeben, ohne gleichzeitig seinen zahlreichen
Familiengliedern den Lebensunterhalt zu verkümmern, es sei für
den aufwendbaren Miethszins aber eine den Anforderungen des
8 58 entsprechende Wohnung überhaupt nicht erlangbar, so muss
als Folge der erzwungenen Leerstellung, d. h. seiner Entsetzung
aus den unzureichenden Miethsgelassen sich herausstellen, dass
er entweder zwar den erforderlichen Raumgehalt seinen Kindern
verschafft, aber gleichzeitig ihnen die benöthigte Nahrung entzieht,
oder dass, weil er seine Kinder nicht hungern sehen will, er mit
denselben obdachlos wird, in jedem Falle aber aus dem Regen
unter die Traufe kommt. Dies ist eine theoretische Annahme,
welche Aussicht auf praktische Bewährung nicht finden werde,
dürfte vielleicht eingewendet werden. Die Arbeiterwohlfahrt be-
dingt gesunde ausreichende Wohnungen. Und dieser gemeinnützige
Zweck heiligt die Mittel, so dass die Möglichkeit ausgeschlossen
erscheint, dass in dem Streben nach dem Guten das Bessere
verloren geht. Allein solchen Zweiflern gegenüber mag darauf
hingewiesen werden, dass die im Interesse der Arbeiterwohlfahrt
erlassene Arbeiterversicherung aus gleichen Ursachen ähnliche
unzuträgliche Zustände bereits gezeitigt hat. Denn sie führte
dahin, dass das Streben, die wirthschaftlichen Nachtheile einer
verminderten Erwerbsfähigkeit auszugleichen, für den davon Be-
troffenen der Grund zur Arbeitslosigkeit wurde, weil er eine
Arbeitsgelegenheit nicht mehr erlangen konnte. Ein lehrreiches
19*