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setzgebung eine Sonderstellung einnimmt, in vielen anderen Be-
ziehungen dagegen, insbesondere in allen finanziellen Angelegen-
heiten, den übrigen Bundesstaaten gleich behandelt wird?
Durch den Bundesvertrag soll nach SEYDEL die gemein-
same Ausübung einzelner Hoheitsrechte, insbesondere auch des
Rechts der Gesetzgebung, den verbündeten Mitsouveränen ein-
geräumt sein. Elsass-Lothringen nun hat gar kein eigenes Recht
der Gesetzgebung; ‚folglich kann es auch die Ausübung dieses
gar nicht existirenden Rechts keinem anderen Staate einräumen.
Das Recht der Gesetzgebung in Elsass-Lothringen steht aus-
schliesslich dem Reiche zu. Das Reich hat die Ausübung dieses
Rechtes zeitweise dem Kaiser als Vertreter von Elsass-Loth-
ringen delegirt, nämlich durch Gesetz vom 9. Juni 1871 für die
Zeit vom 28. Juni 1871 bis 31. Dez. 1872 bezw. 1873 und durch
Gesetz vom 2. Mai 1877 für die spätere Zeit. \äre die Theorie
von SEYDEL richtig, so hätten wir das seltsame Schauspiel, dass
Elsass-Lothringen die gemeinsame Ausübung des Gesetzgebungs-
rechtes zuerst dem Reiche delegirt und dass letzteres sodann die
ihm delegirten Befugnisse an Elsass-Lothringen zurück überträgt!
Wenn der Bundesvertrag die gemeinsame Ausübung des Rechts
der Gesetzgebung den sämmtlichen verbündeten Staaten ein-
räumte, so müsste doch auch Elsass-Lothringen an dieser ge-
meinsamen Ausübung betheiligt sein. Elsass-Lothringen aber
hat kein Stimmrecht im Bundesrath; es hat daher auch keine
Mitwirkung bei der Sanktion der Reichsgesetze, welche im Bundes-
rath erfolgt.
Nach SEYDEL ist jeder Staat souverän, jede Staatsgewalt
eine unbegrenzte und unbegrenzbare Gewalt?‘. Gleichwohl hat
der angeblich souveräne Staat Elsass-Lothringen in der Zeit vom
1. Jan. 1874 bis 2. Mai 1877 weder das Recht der Gesetzgebung
noch die Ausübung dieses Rechts besessen. Derselbe Staat
2° SeYDEL, Kommentar S. 3—4.