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Zunächst ist zu beachten, dass die beiden Abschnitte des Art. 78
ein einheitliches Ganze bilden und nicht willkürlich aus einander
gerissen werden dürfen. Abs. 1 enthält eine generelle Er-
schwerung, Abs. 2 überdies noch eine weitere spezielle Er-
schwerung für Verfassungsänderungen. Zu jeder Aenderung der
Reichsverfassung ist im Bundesrathe eine besonders qualifizirte
Majorität erforderlich; zu einer Aenderung der Reichsverfassung,
welche gleichzeitig iura singularia eines Bundesstaats berührt,
ist diese qualifizirte Majorität nicht ausreichend. Die Aenderung
ist unmöglich, wenn der betheiligte Einzelstaat nicht ausdrücklich
seine Einwilligung gibt. In Fällen der zweiten Art entscheidet
also nicht der Wille des Reiches, sondern der Wille des be-
theiligten Einzelstaats über die Verfassungsänderung.
Das Recht des Reiches, seine Kompetenz zu erweitern, ist
also kein unbeschränktes, sondern ein beschränktes; die von
Häinet behauptete rechtliche Möglichkeit, durch Kompetenz-
erweiterung des Reichs die Einzelstaaten zu enteignen, besteht
jedenfalls nicht bei denjenigen Staaten, welche Sonderrechte be-
sitzen. Das Königreich Preussen kann jede Erweiterung der
Reichskompetenz durch seinen Widerspruch verhindern, da es
für sich allein schon 17 Stimmen im Bundesrathe besitzt und
14 dieser Stimmen zur Ablehnung jeder Verfassungsänderung
genügen. Das Königreich Bayern kann durch seinen Widerspruch
jede Enteignung der deutschen Bundesstaaten unmöglich machen,
denn nach Art. 78 Abs. 2 ist zur Abänderung zahlreicher Vor-
schriften der Reichsverfassung seine Zustimmung erforderlich.
Wenn aber zur Abänderung einzelner Artikel die Zustimmung
Bayerns unentbehrlich ist, so muss diese Zustimmung zur Auf-
hebung der ganzen Reichsverfassung erst recht unentbehrlich
sein, denn mit dem Ganzen wird auch der Theil enteignet, mit
der Gesammtheit der Hoheitsrechte werden auch die speziell
geschützten Hoheitsrechte auf dem Gebiet der Heimaths- und
Niederlassungsverhältnisse, des Immobiliarversicherungswesens, der