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sich auf Bekanntes beschränken muss und nur in der Form der Darstellung
einen eigenen Werth haben kann; der Verf. konnte aber die Vertragstheorie
nicht übergehen, da es ihm gerade darauf ankam, die Auffassungen des
Staats, welche für die Dogmatik des Staatsrechts von besonderer Wichtig-
keit sind, einander gegenüber zu stellen.
Von grösserem Interesse ist das zweite Kapitel (S. 55—94), welches
eine Darstellung der organischen Staatslehre in ihrer allmäligen Entwicklung
und eine vorzügliche, höchst scharfsinnige Widerlegung dieser Theorie giebt.
Der Verf. wendet sich in seiner Kritik besonders gegen die beiden bedeutend-
sten deutschen Vertreter dieser Lehre, GierKkE und PrEUSS; er schliesst sich
an die bekannte treffliche Schrift von van KRIEKEN, „Ueber die sog. organi-
sche Staatstheorie“ und an Linae’s „Empirische Untersuchungen“ an; seine
Beweisführung ist aber keineswegs eine blosse Wiederholung bereits bekannter
Gründe. Mit vorzüglicher Klarheit setzt er den Unterschied, welcher zwischen
den menschlichen Gemeinschaften und den natürlichen Organismen besteht,
auseinander und zeigt, wie die Gleichstellung beider ein für die Erkenntniss
der rechtlichen Natur des Staats vollkommen werthloses biologisches Bild
ist. Der Kernpunkt der Gierke’sche Lehre besteht, wie der Verf. darthut,
in dem Satze, dass der Staat und der Mensch gleichartig sind, indem beide
Organismen sind, dass sie jedoch von einander verschieden sind, indem der
Mensch ein physischer, der Staat ein juristischer Organismus ist. Dadurch
reduzirt sich die organische Staatslehre auf einen Vergleich zwischen zwei
wesentlich verschiedenen Dingen; sie ist ein volltönendes Wort, welches in
unserem Geist phantastische Vorstellungen erregt, aber niemals eine klare
Idee von dem wirklichen Wesen der menschlichen Gemeinschaften im All-
gemeinen und des Staats im Besondern zu geben vermag (S. 80ff.). Die
organische Staatstheorie hat den negativen Werth, dass sie der Vorstellung
entgegentritt, dass der Staat eine willkürliche Schöpfung menschlichen
Wollens oder eine göttliche Institution sei; aber für die positive Konstruktion
des Staates ist sie absolut unbrauchbar. Die Lehre von GIERKE und PrEUSS,
dass dasselbe Naturgesetz, welches aus dem Protoplasma den Organismus bis
zum Menschen schafit, auch darüber hinaus die menschlichen Gemeinschaften
bis zum Staat und den völkerrechtlichen Verbindungen erzeugt, ist eine in
der Luft stehende, unbewiesene Behauptung; mit demselben Recht könnte
man die Entstehung des Staats auf das Naturgesetz der Krystallisation, der
chemischen Verwandtschaft oder der Gravitation zurückführen (S. 88). Dies
organische Prinzip erweist sich auch, sobald man es auf das juristische Gebiet
anwendet, als völlig unfruchtbar, ebenso wie es die Uebertragung juristischer
Prinzipien auf des Gebiet der Naturwissenschaften sein würde (8. 89). Wenn
man von den Erscheinungen der natürlichen Welt eine Anwendung machen
will auf die politischen Gebilde, so kann es nur die sein von der Erhaltung
der Gattungen und Arten auf Kosten der Individuen, welche die einen und
anderen bilden; dies muss zu dem Schluss führen, dass die den Staat bildenden