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Andererseits kann man sich gegen die hier vertretene An-
sicht nicht darauf berufen, ihr widerspräche die Thatsache, dass
Ausfertigung und Verkündigung notwendige Bestandteile des
Reichsgesetzgebungsverfahrens seien und zur ausschliesslichen Zu-
ständigkeit eines unmittelbaren und selbständigen Reichsorganes
gehörten. Es ist richtig — trotz des anscheinend abweichenden
Sprachgebrauches der preussischen und der Reichsverfassung —,
dass die Ausfertigung und die Verkündigung der Gesetze wesent-
liche Bestandteile des Reichsgesetzgebungsverfahrens sind®!. Denn
wenn nach Art. 2 R.-V. die Verkündigung eben derjenige Akt
ist, durch welchen die Rechtsverbindlichkeit der Reichsgesetze
herbeigeführt wird, die Ausfertigung aber, indem sie die Existenz
eines verfassungsmässigen Reichsgesetzgebungswillens bestimmten
Inhalts beurkunden soll, nach der zweifellosen Absicht der Ver-
fassungsgesetzgeber schon für die Verkündigung massgebend sein
soll, so sind eben Ausfertigung und Verkündigung notwendige
Akte innerhalb des Reichsgesetzgebungsverfahrens. Aber beide
bezwecken lediglich, die notwendige Erscheinungsform des Reichs-
gesetzgebungswillens herzustellen, mit der Bildung des gesetz-
geberischen Willens haben sie nichts zu schaffen; sie sind darum,
obwohl sie dem Reichgesetzgebungsverfahren angehören, nicht
Akte der gesetzgebenden, sondern der vollziehenden Gewalt. Es
ist deshalb begrifflich durchaus möglich, dass zur Vornahme der
Ausfertigung und Verkündigung eine Verpflichtung besteht. Da-
durch nun, dass eine Verfassung ein bestimmtes Organ bestellt,
durch welches allein die Ausfertigung und Verkündigung rechts-
gültig vorgenommen werden kann, wird an der rechtlichen Mög-
lichkeit, dass die Vornahme jener Akte eine Pflicht dieses Or-
°! Es kann hier bei den positiven Bestimmungen der Reichsverfassung
füglich dahingestellt bleiben, ob Ausfertigung und Verkündigung beide aus
dem Wesen des Staates entspringende Erfordernisse eines jeden Gesetzgebungs-
verfahrens seien (so bes. LaBanp und ZoRN) oder nur Forderungen positiven
Rechtes (so GIERKE, Zeitschr, f. d. Privat- und öffentl. Recht VI S. 230f. und
Mrvzr, Annalen 1878, S. 372ff., Rstr. S. 495 N., bezüglich der Ausfertigung).