56
ganes ist, in keiner Weise etwas geändert, selbst dann nicht,
wenn die Verfassung keine ausdrücklichen Bestimmungen für
den Fall treffen sollte, dass das berufene Organ die Erfüllung
seiner Pflicht verweigert. Unter der letzten Voraussetzung erwächst
allerdings dem zur Ausfertigung und Verkündigung berufenen
Organe die thatsächliche Möglichkeit eines Vetos gegen jedes neue
Gesetz; aber der Gebrauch dieser Möglichkeit wäre ein offenbarer
Verfassungsbruch und darum auch — abgesehen von einer
eventuellen rechtlichen Verantwortlichkeit — zum mindesten ein
politisch gewagtes Experiment. Diese Erörterung mag leicht allzu
selbstverständlich erscheinen; es hat aber in der That v. RuviLLE
(Das deutsche Reich etc. S. 213) daraus, dass die Reichs-
verfassung kein Auskunftsmittel für den Fall angiebt, dass der
Kaiser einem Gesetze Ausfertigung und Verkündigung verweigert,
geschlossen, Artt. 2 und 17 R.-V. verliehen dem Kaiser ein
Recht zu jener Weigerung. Nein, kein Recht, sondern nur —
unter Bruch der Grundlage des Staates, der Verfassung, — die
thatsächliche Möglichkeit eines Vetos ist dem Kaiser gegeben;
wenn aber die am Gesetzgebungsverfahren mitwirkenden Organe
des Staates ın dieser ihrer Thätigkeit die Verfassung brechen
wollten, wie könnten sie dann von den Staatsangehörigen Be-
folgung der Rechtsordnung verlangen!
Wenn hiernach Ausfertigung und Verkündigung der Reichs-
gesetze verfassungsmässige Pflichten des Kaisers sind, so handelt
dieser doch bei Vornahme jener Akte nicht im unmittelbaren
Auftrage vielleicht des Bundesrates oder des Bundesrates und
Reichstages gemeinsam oder der verbündeten Regierungen, son-
dern er handelt dabei aus eigenem Rechte, unmittelbar auf
Grund der Verfassung; seine Stellung hier ist die gleiche wie im
Falle des Art 16. Es folgt dies daraus, dass unter keinen Um-
ständen Bundesrat und Reichstag oder die verbündeten Re-
gierungen oder sonst jemand es vermöchten, unter Umgehung des
Kaisers einem Reichsgesetze verfassungsmässige Verbindlichkeit