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auch der Kaiser hat ohne Rücksicht darauf, ob ihm der Inhalt
der Vorlage zusagt, diese schlechthin nach Massgabe der Be-
schlüsse des Bundesrates an den Reichstag zu bringen, wo aber
die Freiheit des Handelns für den Kaiser ein Ende hat, da findet
auch die Verantwortlichkeit des Ministers für die Regierungs-
handlungen des unverantwortlichen Staatsoberhauptes ihr Ende.
Andererseits erscheint die Kontrasignatur der kaiserlichen An-
ordnung, welche die Vorlage eines vom Bundesrate beschlossenen
Gesetzentwurfess an den Reichstag befiehlt, auch insoweit als
Pflicht des Reichskanzlers, als der Kaiser verpflichtet ist, die
Vorlage an den Reichstag zu bringen; d. h. soweit nicht die
Ueberzeugung von der Mangelhaftigkeit der Entstehungsform des
Bundesratsbeschlusses die Verpflichtung des Kaisers ausschliesst,
muss der Reichskanzler jede kaiserliche Anordnung gegen-
zeichnen, in welcher die Beförderung dieses Beschlusses an
den Reichstag befohlen wird. Darum wie der Kaiser niemals
seine Missbilligung des Inhalts des verfassungsmässig entstan-
denen Bundesratsbeschlusses zum Anlass nehmen darf, die Vor-
legung desselben vor den Reichstag zu verzögern oder ganz
zu unterlassen, ebensowenig darf eine solche Missbilligung
seitens des Reichskanzlers hierzu Anlass geben. Allerdings hat
der Reichskanzler in solchen Fällen nach $ 35 des Reichs-
beamtengesetzes das Recht, ohne weiteres seine Entlassung zu
fordern und sich so der Mitwirkung bei einem ihm nicht ge-
nehmen Gesetze zu entziehen®®.
85 Es ist freilich der Fall denkbar, dass der Reichskanzler bei einem
ihm nicht genehmen Gesetze, dessen Bedeutung bei kurzer Verzögerung der
Einbringung im Reichstage vollständig oder zum grossen Teil hintällt, seinen
Zweck, dieses Gesetz zu hintertreiben, durch eine in die Form eines Ent-
lassungsgesuches gekleidete Weigerung der .Kontrasignatur erreichen kann;
für solche Fälle erscheint es zum mindesten zweifelhaft, ob nicht der Reichs-
kanzler trotz seines Entlassungsgesuches die Vorlage an den Reichstag durch
seine Kontrasignatur ermöglichen muss als bei einem laufenden unaufschieb-
baren Regierungsgeschäfte.