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Von zwei Fällen?® aus der politischen Praxis wird berichtet,
in welchen vom Bundesrate angenommene Gesetzesvorlagen nicht
an den Reichstag gebracht worden sind; die betreffenden Bundes-
ratsbeschlüsse datieren vom 26. Febr. bezw. 3. April 1880. Ge-
legentlich einer vom Abg. RıcHTEr über diese Fälle provozierten
Debatte in der Sitzung des Reichstages vom 24. Febr. 1881 hat
BismArcK mit Recht darauf hingewiesen, dass für den Fall, dass
eine vom Bundesrate beschlossene Gesetzesvorlage nicht an den
Reichstag gelangt, der Bundesrat selbst allein klagberechtigt ist;
wenn dieser sich daher mit der Nichteinbringung ausdrücklich
oder stillschweigend zufrieden giebt, so entfällt im konkreten
Falle die Verpflichtung des Kaisers bezw. des Kanzlers, der
Reichstag insbesondere hat kein Recht, die Vorlage zu fordern.
Der schlichte Wortlaut der Artt. 5 und’ 17 R.-V. könnte zu
der Annahme führen, die einfache Thatsache, dass Bundesrat
und Reichstag gleichlautende Mehrheitsbeschlüsse gefasst hätten,
oder wenigstens die offizielle Mitteilung jeder dieser Beschlüsse
seitens des den Beschluss fassenden Organes bewirke einen kon-
kreten Fall der dem Kaiser aus Art. 17 gebührenden Kompetenz.
Doch ist das geltende Recht ein anderes.
Art. 7 Abs. 1 R.-V. bestimmt:
„Der Bundesrat beschliesst: 1. über die dem Reichstage
zu machenden Vorlagen und die von demselben gefassten Be-
schlüsse, . . .*
Es ist bestritten — und zwar nicht ohne Grund — ob
die Reichsverfassung mit der hier statuierten Befugnis des
Bundesrates, über die von dem Reichstage gefassten Beschlüsse
zu beschliessen, nur auf die aus der Initiative des Reichstages
hervorgegangenen Gesetzentwürfe und die von ihm amendirten
Bundesratsvorlagen habe hinzielen wollen oder auch auf die der
Bundesratsinitiative entstammenden Entwürfe, welche vom Reichs-
% Vgl. hierzu bes. Hazner, Stud. II S. 46ff.; Lapanp, Rstr. I S, 511
N. 1f.; Meyer, Anteil S. 73ff.