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Es entziehen sich sonach alle Fälle einer schiedsrichterlichen
Entscheidung, die formell als Interessenstreitigkeiten auftreten.
Dabei ist zu beachten, dass sehr häufig hinter anscheinend gering-
fügigen Rechtsstreitigkeiten unter Staaten sich recht tiefgehende
Interessengegensätze verbergen. In allen solchen Fällen werden
aber die streitenden Staaten selbst anscheinend geringfügige
Rechtsstreitigkeiten einer schiedsrichterlichen Entscheidung weder
unterwerfen wollen noch können?®. Dass in den Fällen, in denen
wirklich oder vermeintlich die nationale Ehre oder Lebensinter-
essen der betreffenden Staaten in Frage stehen, von einer schieds-
richterlichen Entscheidung keine Rede sein kann, mag der Streit
als Rechtsstreit oder Interessengegensatz auftreten, ist selbst-
verständlich und ist auch von der russischen Regierung in ihrem
Vorschlage anerkannt worden.
Nach diesen Ausführungen: ist der Anwendungsbereich des
schiedsgerichtlichen Verfahrens in Streitigkeiten unter Staaten
ein beschränkter. Wenn trotzdem von den sog. Friedensfreunden
fortwährend nach Anerkennung des Grundsatzes des obligatori-
schen Schiedsverfahrens für internationale Streitigkeiten gestrebt
wird, so liegt derartigen Bestrebungen in der Regel die unklare
Vorstellung zu Grunde, dass es im Laufe der Zeit gelingen
werde, die Staaten zur völkerrechtlichen Gemeinschaft, zu einem
2° Ein recht schlagendes Beispiel dafür, dass Streitigkeiten, die äusser-
lich als Rechtsstreitigkeiten auftreten, in Wirklichkeit tiefgehende Interessen-
gegensätze sind, bietet der jüngste Transvaalkrieg. Die von England auf-
geworfene Suzeränitätsfrage wäre wohl geeignet gewesen, durch ein Schieds-
gericht entschieden zu werden. In Wirklichkeit handelte es sich aber gar
nicht um diese Rechtsfrage, sondern darum, ob England die Alleinherrschaft
in Südafrika zustehen soll. Desshalb dachte die englische Regierung gar
nicht daran, zur Entscheidung des Streites mit Transvaal ein Schieds-
gericht zu verlangen. Aber auch das englische Volk wollte keine Entschei-
dung durch einen Schiedsspruch, sondern eine Niederwerfung Transvaals
durch Gewalt, ein Beweis, dass nicht blos die Regierungen kriegerisch ge-
sinnt sind, wie die Friedensfreunde stets behaupten, sondern dass auch den
Völkern die Kriegslust im Biute steckt.