— 299 —
zu schreiben, sollte einem Historiker heute unmöglich sein. Aber das ist es
eben, LANDSBERG ist wesentlich ‚Jurist und nicht Historiker und lebt in der
bei Juristen allerdings üblichen Vorstellung, dass die Jurisprudenz eine
Wissenschaft für sich sei, die sich aus sich selbst entwickle, unbekümmert
um die Ereignisse und Kämpfe, die sich „weit hinten“, in dem, was für sie
„Türkei“ ist, abspielen. Wie überhaupt der Historiker sich nicht mit der
Schilderung der Ereignisse begnügen darf, sondern ihren Ursachen nachgehen
muss, so sollte meines Erachtens auch der Geschichtsschreiber der Rechts-
wissenschaft sich nicht mit Lebensbeschreibungen und Referaten der An-
sichten einzelner Juristen genügen lassen, sondern die Ursachen der Ge-
dankenentwickelung mindestens andeuten und diese als einzelne Phänomene
im Fluss der Weltgeschichte auffassen. Eine solche Art der Darstellung, die
allerdings stark mit der Stintzına’schen kontrastiert hätte, finden wir nun
auch bei LAnnsBEr& nicht, und so kommt es, dass wir zwar eine Reihe sehr
guter Bilder erhalten, aber kein Bild:
Fern sei es von dem Ref., deshalb der ungeheuren geistigen Arbeit,
welche der Verf. bewältigen musste, seine Bewunderung, den Resultaten, die
derselbe erzielt hat, seine Anerkennung und der tausendfältigen Belehrung,
die er uns vermittelt hat, seinen aufrichtigen Dank vorzuenthalten. Im
Gegenteile, ich erachte es als meine angenehme Pflicht, auszusprechen, dass,
als Quelle der Belehrung und als Nachschlagewerk betrachtet, LANDSBERG’S
Buch kaum seinesgleichen in der deutschen Literatur finden dürfte Wir
müssen uns freilich die mannigfaltigen Lehren, welche wir aus der Geschichte
der dargestellten Epoche ziehen können, mehr selbst zurechtlegen, und das
ist eigentlich nicht die Sache des Lesers. Aber immerhin, in dieseın Sinne
ist das Werk in der That höchst lehrreich.
So lernen wir aus dem Werke beispielsweise, welche guten und welche
bösen Folgen die in jener Zeit in Deutschland übliche Verbindung von
Theorie und Praxis mit sich gebracht hat. Die Fakultäten waren zugleich
Spruchkollegien, und diese Verquickung von Theorie und Anwendung der-
selben vermindert sehr stark die wissenschaftliche Thätigkeit der deutschen
Rechtslehrer, gab ihnen aber auch jenes Ansehen, jenen Einfluss auf die
Rechtsprechung, welche den logischen Grundfehler der naturrechtlichen
Doktrin erklärlich und entschuldbar macht. Wenn der Lehrer staatlich be-
auftragt und befugt ist, seine Lehre auch gleich in der Rechtsprechung an-
zuwenden und so durch sein Ansehen die Gerichte aufs stärkste zu be-
einflussen im stande ist, ja wenn im Gesetze selbst die „natürlichen Rechts-
grundsätze“, wie unser österreichisches bürgerliches Gesetzbuch sagt, als
Rechtsquelle bezeichnet werden, dann verschwindet allerdings die Sonder-
barkeit der naturrechtlichen Doktrin, ein „Recht“ anzunehmen, das nicht
gilt. Dann lag es eben in der Macht der Rechtsgelehrten, es zur Geltung
zu bringen. Erst mit dem Aufhören jener praktischen Thätigkeit in der
Rechtsprechung, vollends mit den grossen Kodifikationen, die wir aber eben
Archiv für öffentliches Recht. XV. 2. 20