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als eine der wichtigsten und segensreichsten Folgen der naturrechtlichen
Doktrin zu betrachten haben, wird die Sache anders. Damit wird jener
Widerspruch ein greifbarer, der Gegensatz zwischen dem natürlichen und
dem sog. „positiven“ Recht ein klaffender, unüberbrückbarer, jetzt erst kann
das natürliche Recht das werden, was es heute ist: Politik, Moral oder —
das Programm der Enterbten.
Wir lernen ferner unter anderem aus dem Werke, in wie hohem Masse
die Jurisprudenz diejenigen, welche sich mit ihr beschäftigen, konservativ
macht. Ihre ganze Geistesrichtung wird einseitig beeinflusst, ihre Wissen-
schaft verleitet sie, die bestehende Machtrverteilung, selbst wenn aus ihr eine
„ewige Krankheit“ geworden ist, zu verteidigen, ererbte Uebelstände als
notwendigen Glauben, Besitz und Recht hinzustellen. Höchst lehrreich wäre
in dieser Hinsicht insbesondere ein Vergleich zwischen den Ansichten der
deutschen naturrechtlichen Schule und dem Naturrecht der nicht juristischen
Physiokraten gewesen! Sehen wir etwa von einem TnoMasıus ab, so ist
doch unter diesen hunderten von bedeutenden deutschen Männern, die uns
der V.erf. vorführt, nicht einer, den man als einen Reformator seines Volkes
bezeichnen könnte und dem die Herzen der Leser oder gar die seines Volkes
zufliegen könnten. Lauter Schriftgelehrte, kein Prophet. Die meisten streber-
haft, eitel, viele von ihnen habgierig und Konvertiten unter verdächtigen
Umständen. Eine Persönlichkeit, wie die des alten Moser, ist leider eine
ausnahmsweise Erscheinung. Aber dieser war zwar ein Charakter, aber kein
Talent.
Lehrreich ist es ferner, zu beobachten, wie doch das ganze Naturrecht
von seinem Beginn bei GroTIus an wesentlich ein Produkt der Reformation
ist. Seinem Wesen nach konnte es nicht anders sein, als dass dies Natur-
recht in unversöhnlichem Widerspruch mit dem Katholizismus stand. Wie
trotzdem der Geist dieses Naturrechtes sich in der zweiten Hälfte des Jahr-
hunderts auch in die Kreise des katholischen Kirchenrechtes eindrängte und
hier auch Erfolge erzielte, die aber notwendig ephemer bleiben mussten, das
ist in dem Werke anschaulich geschildert, während freilich die zweite Folge-
wirkung, der tiefe und eingreifende Einfluss des Naturrechtes auf die katho-
lischen Regierungen nur insofern gestreift wird, als er in den süddeutschen
Kodifikationen zum Ausdruck gelangt. Mit jenem Umstande steht es wohl
auch im Zusammenhang, dass wir in der ganzen naturrechtlichen Walhalla
nicht einen einzigen Deutsch-Oesterreicher finden, ein paar minder bedeutende
Namen der allerletzten Zeit etwa ausgenommen. (Eine Statistik der Rechts-
lehrer nach ihrer Abstammung wäre übrigens ein dankenswertes Unternehmen.)
Ein Vergleich mit den Literaturen der anderen Nationen zeigt uns
endlich, dass der oft gerühmte Freiheitssinn des deutschen Volkes innerhalb
der vom Verf. behandelten Zeit in der gelehrten Jurisprudenz nicht eben
zum Ausdruck gelangt. Vielleicht ist es ja verfehlt, ihn hier zu suchen.
Aber auffallend und für das deutsche Nationalgefühl nicht gerade schmeichel-