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auf dem Standpunkt steht, dass es unbefangen und ohne Kennt-
niss der Schriftsätze in die Verhandlung eintreten müsse, und
daher die Akten vor der Sitzung zu seiner Information nicht
benützt, sich geradezu gegen die Vorschriften des Gesetzes ver-
gehe. BäÄuHr® hat hieraus die richtige Folgerung abgeleitet, indem
er ausführt, dass, wenn das vorherige Aktenstudium unzulässig
oder im Gegentheil vom Gesetzgeber vorgeschrieben sei, die Aus-
übung des Studiums oder seine Unterlassung disziplinarisch ver-
folgt werden müsse. Wenn wirklich die Absicht des Gesetzgebers
sich hierüber zweifellos feststellen liesse, so würde bei der Be-
deutung, welche die Frage für die ganze Entwicklung des Ver-
fahrens hat, ein solches disziplinarisches Einschreiten gewiss am
Platze sein. Dass ein solches bisher noch niemals stattgefunden
hat, dass vielmehr immer noch diese Gerichte ohne Kenntniss
der Akten, jene mit Kenntniss der Akten in die Verhandlung
eintreten, zeugt jedenfalls davon, dass nach weitverbreiteter An-
sicht der Gesetzgeber in dieser Beziehung eine bestimmte Regelung
überhaupt nicht aufgestellt hat.
Wenig verständlich ist, wie diejenigen, welche das vorherige
Aktenstudium fordern, sich grundsätzlich damit begnügen können,
dass lediglich ein einzelnes Gerichtsmitglied als Referent die Akten
einsieht und studirt. Die Civilprozessordnung kennt einen Bericht-
erstatter in diesem Falle nicht. Wenn sie wirklich eine Pflicht
zum vorherigen Aktenstudium hat statuiren wollen, so ist damit
nur vereinbar, dass sämmtliche Mitglieder des Gerichts die Akten
vor der Verhandlung studiren, was notorisch nur bei ganz wenigen,
schwach beschäftigten Landgerichten vorkommt. Einem einzelnen
Richter eine so einflussreiche Stellung zu gewähren, wie sie natur-
gemäss der Referent im Kollegium hat, ist nur zulässig, wenn
es das Gesetz direkt vorschreibt. Anderenfalls verstösst man gegen
die Grundlage des Prinzips des Kollegialgerichts.
® Jahrb. f. Dogmatik Bd. XXIII S. 362.