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Die englisch-nordamerikanische Jurisprudenz der alten
Schule?®, die thatsächlich noch immer das Uebergewicht hat,
benutzt, da die englische Gesetzgebung im Privatrechte nur
recht lückenhaft ist, als hauptsächlichstes Auskunftsmittel das
Suchen nach Präzedenzentscheidungen. Bei der unendlichen
Mannigfaltigkeit des Liebens ist es nun begreiflicher Weise oft
recht schwer, einen wirklich passenden Präzedenzfall zu finden.
Da wird denn von den Parteien dieser und jener eigentlich nicht
passende Fall so lange gereckt und gewendet, bis er einiger-
massen den vorliegenden Fall zu decken scheint, und in gleicher
Weise verfährt schliesslich der Richter, wenn er nicht — und so
ergehen oft vortreffliche Entscheidungen — in sehr freier Art
die Analogie, d. h. eigentlich die Natur der Sache benützt, um
eine Stütze in einem Präzedenzfalle zu finden. So entsteht ein
neuer Präzedenzfall. In einem späteren Prozesse weist dann eine
Partei nach, dass in jenem neuen Präzedenzfalle, obschon der
Richter anscheinend nach den früheren Präzedenzfällen ent-
schieden habe, doch in Wahrheit ein abweichender Rechtssatz zur
Geltung gekommen sei, der frühere Präzedenzfall oder ein anderer
„overruled® sei. Die von der Zopf-Jurisprudenz und dem Chief-
Justice RussEL so vornehm abgewiesene Argumentation aus der
Natur der Sache ist also doch da, und oft macht sie sich gerade
sehr stark geltend: „chass&e par la porte, elle rentre par la fenetre.*
Die Berufung auf den sog. Positivismus beweist daher nicht viel
gegen die freiere Behandlung des internationalen Privatrechts.
Sehr richtig bemerkt dagegen Kann, dass das internationale
Privatrecht Völkerrecht nur insoweit sei, als es auf völkerrecht-
lichen Verpflichtungen der einzelnen Staaten beruht, Normen
des internationalen Privatrechts als Recht zu haben und durch-
zuführen. Hiernach erklärt sich Kann konsequent gegen das
überstaatliche internationale Privatrecht ZITELMANN’s,
# Im internationalen Privatrechte neigen WESTLAKE und WHARTON
bereits stark einer freieren Behandlung zu.