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spreche, so erkläre sie implicite auch Verhandlungen in geheimen
Sitzungen für rechtlich möglich und zulässig. — Doch auch diese
Beweisführung täuscht. Zunächst zwingt der Wortlaut des Abs. 2
nicht zu dem von den Gegnern gezogenen Schlusse. Sodann
aber wird eine natürliche, nicht willkürliche Auffassung den Ge-
gensatz zu den öffentlichen Sitzungen des Reichstages in den
geheimen seiner Kommissionen und Abtheilungen finden müssen !,
Denn dass diese nichtöffentlich berathen, ist durch die Verfassung,
welche in Art. 22 nur vom Reichstage als Ganzem (Plenum)
spricht, keineswegs ausgeschlossen und, weil es intra legem in
der Geschäftsordnung festgesetzt ist, zulässig'”. Schon hiernach
lässt Abs. 2 Art. 22 keine Ausnahme von der Oeffentlichkeit
der Plenarverhandlungen des Reichstages zu. Es liegt aber über-
haupt nahe, seine Ausdrucksweise auf ein Redaktionsversehen
zurückzuführen, weil die genannte Bestimmung dem 8 38 des
preussischen Gesetzes vom 12. Mai.1851 (Pressgesetz) entnommen
ist, das preussische Recht aber in seiner Verfassung!? neben den
öffentlichen geheime Sitzungen beider Kammern ausdrücklich
zulässt !*.
Noch mehr, wenn nur die grundsätzliche Bestimmung über
die Oeffentlichkeit der Verhandlungen, nicht aber die Ausnahme-
vorschrift über die eventuelle Nichtöffentlichkeit der Sitzungen
aus der preussischen Verfassung in die des Reiches übernommen
wurde, so legt dies — argumentum a contrario — den Schluss
nahe, es sollten im Reiche geheime Parlamentsverhandlungen
überhaupt ausgeschlossen sein.
11 Vgl. hierzu v. SEYDEL, Der deutsche Reichstag a. a. O. S. 417.
2 Dass die „Kommissionen“ juristisch im Gegensatze zum „Reichstage“,
stehen, zeigt auch die Ausdrucksweise des $ 27 Abs. 5 GeschO.: „Eine
Ausschliessung der Oeffentlichkeit der Kommissionsverhandlungen für die
Nichtmitglieder dee Kommissionen kann nur der Reichstag be-
schliessen.“ MöorrLer, Geheime Reichstagssitzungen (1900) 8. 6.
13 Art. 79, s. oben S. 551 Anm. 6.
14 Vgl. Lapann a. a. O. Bd. I S. 306£.; v. SEYDEL a. a. O. 8. 417.