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Zu demselben Ergebniss führt auch eine Betrachtung der
Entstehungsgeschichte des Art. 22 a. a.0.!°, welcher in der Re-
gierungsvorlage lediglich lautete: „die Verhandlungen des Reichs-
tages sind Öffentlich“, und dem der zweite Absatz in Verfolg
eines Antrages LASKER erst in den Reichstagsberathungen ein-
gefügt wurde, um für die bereits festgelegte Oeffentlichkeit noch
besondere Garantien zu schaffen, nicht aber, um dieselbe ein-
zuschränken. „Ich bin“ — so begann der Antragsteller seine
Ausführungen!® — „für das Prinzip der Oeffentlichkeit der Ver-
handlungen, wie es im Art. 22 ausgedrückt ist, aber zugleich .
für seine Konsequenzen“'!”, Und sollte wirklich die Zu-
lassung geheimer Sitzungen eine Konsequenz des Prinzips der
Oeffentlichkeit sein? '®
Die Reichsverfassung bietet also für die Zulässigkeit ge-
heimer Plenarverhandlungen des Reichstages keine Handhabe.
Wenn 8 36 Gesch.-O. sie dennoch statuirt, so muss hier der
oben!? aufgestellte Grundsatz Anwendung finden, dass eine auto-
nomische Festsetzung ihre Grenze in den Bestimmungen des Ge-
setzes findet?°, insbesondere der Verfassung nicht derogirt.
15 Vgl. v. SEYDEL a. a. O. S. 417.
16 Sitzung des konstituirenden Reichstages vom 29. März 1867. Stenogr.
Ber. S. 439. BezoLp, Materialien der deutschen Reichsverfassung (1873)
Bd. ILS. 72.
Vgl. auch MÜLLER a. a. O. S. 10 und ebenda die Bemerkung: Nahm
LASKER in seinem — die Hinzufügung des Abs. 2 bezweckenden — Antrage
den Wortlaut des preussischen Pressgesetzes hinüber, so war es vielleicht
ein kleiner, gewiss sehr entschuldbarer Fassungsfehler, in überflüssiger Weise
das Wort „öffentlich“ stehen zu lassen. Niemand — am wenigsten LaskER
— dachte daran, einen Gegensatz zu einer Art von Sitzungen zu konstruiren,
mit welcher man, da ja auch die Geschäftsordnung erst ein Jahr später im
norddeutschen Reichstage angenommen wurde, damals überhaupt gar nicht
rechnen konnte.
18 y, SEYDEL a. &. O. 8. 417. 1 S. 552.
20 y, Seypeu a. a. S. 417; Lapann a. a. O. Bd. I S. 306?; v. SEYDEL,
Kommentar zur Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich (1897) S. 199;
MeExzR a. a. O. S. 409°,