— 556 —
Dieser — man darf sagen — allgemein anerkannte Grund-
satz ist speziell in seiner Anwendbarkeit auf $& 36 Gesch.-O. für
den Reichstag bestritten worden:
Thuupicaum°®! meint, dass & 36 a. a. O. desshalb zu Recht
bestehe, weil der Bundesrath seiner Aufstellung nicht wider-
sprochen habe. Darauf sei erwidert, dass der Bundesrath gar
nicht in der Lage war, sich mit Rechtswirksamkeit zu 8 36
Gesch.-O. zu äussern bezw. zu widersprechen; denn es han-
delte sich lediglich um eine interne Frage des Reichstages, der
gemäss Art. 27 Satz 2 R.-V. seinen Geschäftsgang selbständig
zu regeln berufen ist. Wollte man selbst dem Stillschweigen des
Bundesrathes eine Zustimmung entnehmen, so käme dennoch dem
8 36 Satz 2 a. a. O. desshalb keine Rechtskraft zu, weil ein
staatsrechtlicher Beschluss, wie ihn die Reichsverfassung in Art. 5
u. 7 für die Gesetzgebung erfordert, nicht stillschweigend gefasst
werden kann?” — Der Bundesrath und sodann der Kaiser sind
rechtlich erst dann in der Lage, zu der fraglichen Bestimmung
Stellung zu nehmen, wenn der Reichstag auf Grund derselben
einen Beschluss gefasst hat, da sie — der Bundesrath, soweit der
Reichstag, der Kaiser, soweit sowohl Reichstag als Bundesrath in
Betracht kommen — berechtigt und verpflichtet sind, die ver-
fassungsmässige Entstehung der Beschlüsse der gesetzgebenden
Faktoren zu prüfen ®®.
Auch kann meines Erachtens davon keine Rede sein, dass
8 36 Satz 2 Gesch.-O. auf Grund eines der Verfassung dero-
girenden Gewohnheitsrechts zu Recht bestehe®*, — Denn, wenn
es selbst zutrifft, dass auch Gesetze, welche Fragen des öffent-
21 Verfassungsrecht des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Zoll-
vereins (1870) S. 192. S. auch Avergach, Das neue Deutsche Reich und
seine Verfassung S. 113. — Gegen Taupıchum, MEYER a. a. O. 8. 409°,
#2 Vgl. auch MÜLLER a. a. OÖ. S. 10.
2° TJebereinstimmend MüLLER a. a. O. S. 10.
24 Diese Ansicht ist angedeutet in der „Kölnischen Volkszeitung“ vom
20. März 1900 (No. 266).