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v. Liszt, Dr. Franz, Das Völkerrecht systematisch dargestellt. Berlin,
O. Häring, 1898. 8%. XV u2548. M.6—.
Ullmann, Dr. Emanuel, Völkerrecht. Im Handbuch des öffentlichen
Rechts, Bd. I. ı1. Zweite Aufl. Freiburg und Tübingen, J. C. B. Mohr
(Paul Siebeck), 1898. gr. 8°. XI u 3768. M. 9.—.
Das fast gleichzeitige Erscheinen zweier systematischer Bearbeitungen
eines Rechtsstoffes, der in Fragen der Dogmatik, wie des praktischen Staaten-
lebens im Vordergrunde des allseitigen Interesses steht, macht der wissen-
schaftlichen Kritik, die sich nicht mit dem pflichtmässigen Geschäft eines
Accessionskatalogs begnügen darf, ein Doppeltes zur Aufgabe. Sie muss
diese „Duplizität der Erscheinungen“ auf ihre treibenden Ursachen prüfen
und darf nicht hinter der bequemen Formel des zufälligen Zusammentreffens
unzulängliche Deckung suchen. Ist so der Rahmen gefunden, der sich um
beide Werke gleichen Inhalts aus verschiedenen geistigen Werkstätten spannt,
dann erst fällt ihr auch noch die leichtere Aufgabe des Messens und Wägens
der einzelnen Leistung zu. Gehen wir mit diesem Plan an die Besprechung
der beiden Völkerrechtswerke, so sehen wir beide gleichsam herausgetrieben
aus dem fruchtbaren Boden unserer ereignissvollen Zeit, in der jede auf den
ersten Anblick als „streng national“ erscheinende Thatsache des innern
Staats- und Volksthums wie mit Hilfe eines Heliographen sofort ins System
des internationalen Staaten- und Wirthschaftslebens hineinstrahlt. Die
Welt der Wirklichkeit, der uns thatsächlich umgebende, zur Ausprägung
in Rechtsformen drängende Völkerverkehr bildet den Untergrund beider
Werke; sie halten sich in gleichem Abstand fern von aprioristischen Kon-
struktionen, die das Leben meistern wollen und von ÖOptativen, in denen
sich der Einzelne berechtigt glaubt, als Sprachrohr für den „Weltgeist“ zu
fungiren. Das ist der ewig geheimnissvolle Zauber unserer Arbeit: je schärfer
und wahrer der Einzelne das wirklich Vorhandene sieht und wiedergibt,
umso deutlicher zeigt die von seiner Hand hochgehaltene Laterne in ihrem
Lichtkreis den Weg der Zukunft, den die Rechtsentwicklung nehmen wird.
Auch die Geisteswissenschaften haben ihr räthselvolles Problem der „Em-
bryologie“, das nicht mit scharfer Hand angefasst werden darf. —
Noch eine zweite Parallelerscheinung macht sich beim Studium der beiden
Völkerrechtswerke fühlbar: ihre Stellung zum grossen Handbuch des
Völkerrechts, das unter v. HoLTZEnDoORFF's Leitung vor nun zehn Jabren
zum Abschluss gelangt, gleichsam den damaligen und wohl auch noch heutigen
Stand der Lehre zusammenzufassen, zu einer Gesammtdarstellung zu bringen,
bestimmt gewesen. Meine Mitarbeit kann mich nicht des Rechts auf Selb-
ständigkeit des Urtheils über das Werk verlustig machen: ich unterwerfe mich
willig auch bei einer geistigen Produktiv-Genossenschaft der Forderung der
„unbeschränkten Haftung“, aber ich verlange, was auch dem Genossenschafter
nicht versagt werden kann, die Selbständigkeit des Theils gegenüber dem
Archiv für Öffentliches Recht. XV. 4.. 41